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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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geführter Bau mit Benutzung derjenigen Stücke alter Liturgien, die das ge¬
bildete Bewußtsein noch ansprachen. Daß man damit vorläufig etwas Un¬
vollkommenes hinstelle, wurde gleich anfangs zugegeben. Die Nachfolger, die
Unionstheologen (Lücke, Sack, Dörner, Jul. Müller, Gieseler, zuletzt auch
de Wette, Neander und Nitzsch, die beiden bedeutendsten aller) haben mehr
oder weniger segensvoll gewirkt, doch keiner durchgreifend.

Das religiöse Bedürfniß ist in Deutschland von jeher sehr groß gewesen;
wer sich davon überzeugen will, muß es freilich an der rechten Quelle auf¬
suchen, da, wo es sich unbefangen offenbart. Denn dadurch hat sich das deutsche
Volk auch in religiöser Hinsicht vor vielen andern immer ausgezeichnet, daß
es nicht in sich versinkend und versumpfend an einer gewissen Form starr fest¬
hielt, so daß es, geleitet vom Wahrheitssinn, stets das Vollkommnere erstrebte.
In diesem Streben aber in einseitigster Weise wieder auf die Confessionskirchen
zurückzukommen, das war nur möglich bei einem Zustande der Ermattung und Ab¬
spannung, wie er in diesen letzten Jahren allgemein geworden ist, und unter der
Obhut einer starren, mittelalterlichen Staatsidee. Die lutherische Confession
betrachtete sich als beim Unionswerk zurückgesetzt (wirklich ging dieses auch mehr
von reformirter Seite aus), etablirte sich sogleich als Partei der Altlutheraner,
schwang sich in seinen kräftigsten Bekennern nach einigen Metamorphosen zu
den höchsten Staats- und Kirchenämtern empor, und sitzt jetzt ganz wohl¬
gemut!) in Stand und Ehren. Auch Kliefath als Oberkirchenrath zu
Schwerin agirt ein lutherisches Päpstlein.

Die nächste Aufgabe, welche den Wiedererweckern der Particularkirchen
zufiel, war: den Nachweis zu liefern, daß das durch die Union Beseitigte
etwas Vollkommenes sei. Unsere neumodischen Altlutheraner, die Festigkeit des
dogmatischen Bollwerks voraussetzend, brachten solches zuerst in Sachen des
Cultus heraus. In diesem Sinne verfaßte Kliefath seine Schrift: "Die ur¬
sprüngliche Gottesdienstordnung in den deutschen Kirchen lu¬
therischen Bekenntnisses, ihre Destruction und Reformation."
(Schwerin, Stiller. 4 847.) Wer sich mit dem Werke Luthers eingehender be¬
faßt hat, dem wird sein Schwanken hinsichtlich der neuen Cultusordnung nicht
entgangen sein. Es ist lehrreich, insofern sich darin eine der endlichen Seiten
dieses starken Mannes und der durch ihn hervorgerufenen Bewegung offen¬
bart. Vieles vom Gebrauch der katholischen Kirche mußte und wollte er bei¬
behalten, aber durch die veränderte Grundanschauung wurde es bald zur leeren,
lästigen Form. Mit dem Hinausweisen des alten Meßopfers entwich der
Mittelpunkt des Gottesdienstes, und nun stritten sich "Predigt" und "Abend¬
mahlsfeier" um den Vorrang. Luther war geneigt, das Abendmahl zu bevor¬
zugen; aber wie war dies praktisch durchzuführen? Hauptsache und Mittel¬
punkt ist doch nur dasjenige, dessen Wirkung sich über Alle als gleichmäßig


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geführter Bau mit Benutzung derjenigen Stücke alter Liturgien, die das ge¬
bildete Bewußtsein noch ansprachen. Daß man damit vorläufig etwas Un¬
vollkommenes hinstelle, wurde gleich anfangs zugegeben. Die Nachfolger, die
Unionstheologen (Lücke, Sack, Dörner, Jul. Müller, Gieseler, zuletzt auch
de Wette, Neander und Nitzsch, die beiden bedeutendsten aller) haben mehr
oder weniger segensvoll gewirkt, doch keiner durchgreifend.

Das religiöse Bedürfniß ist in Deutschland von jeher sehr groß gewesen;
wer sich davon überzeugen will, muß es freilich an der rechten Quelle auf¬
suchen, da, wo es sich unbefangen offenbart. Denn dadurch hat sich das deutsche
Volk auch in religiöser Hinsicht vor vielen andern immer ausgezeichnet, daß
es nicht in sich versinkend und versumpfend an einer gewissen Form starr fest¬
hielt, so daß es, geleitet vom Wahrheitssinn, stets das Vollkommnere erstrebte.
In diesem Streben aber in einseitigster Weise wieder auf die Confessionskirchen
zurückzukommen, das war nur möglich bei einem Zustande der Ermattung und Ab¬
spannung, wie er in diesen letzten Jahren allgemein geworden ist, und unter der
Obhut einer starren, mittelalterlichen Staatsidee. Die lutherische Confession
betrachtete sich als beim Unionswerk zurückgesetzt (wirklich ging dieses auch mehr
von reformirter Seite aus), etablirte sich sogleich als Partei der Altlutheraner,
schwang sich in seinen kräftigsten Bekennern nach einigen Metamorphosen zu
den höchsten Staats- und Kirchenämtern empor, und sitzt jetzt ganz wohl¬
gemut!) in Stand und Ehren. Auch Kliefath als Oberkirchenrath zu
Schwerin agirt ein lutherisches Päpstlein.

Die nächste Aufgabe, welche den Wiedererweckern der Particularkirchen
zufiel, war: den Nachweis zu liefern, daß das durch die Union Beseitigte
etwas Vollkommenes sei. Unsere neumodischen Altlutheraner, die Festigkeit des
dogmatischen Bollwerks voraussetzend, brachten solches zuerst in Sachen des
Cultus heraus. In diesem Sinne verfaßte Kliefath seine Schrift: „Die ur¬
sprüngliche Gottesdienstordnung in den deutschen Kirchen lu¬
therischen Bekenntnisses, ihre Destruction und Reformation."
(Schwerin, Stiller. 4 847.) Wer sich mit dem Werke Luthers eingehender be¬
faßt hat, dem wird sein Schwanken hinsichtlich der neuen Cultusordnung nicht
entgangen sein. Es ist lehrreich, insofern sich darin eine der endlichen Seiten
dieses starken Mannes und der durch ihn hervorgerufenen Bewegung offen¬
bart. Vieles vom Gebrauch der katholischen Kirche mußte und wollte er bei¬
behalten, aber durch die veränderte Grundanschauung wurde es bald zur leeren,
lästigen Form. Mit dem Hinausweisen des alten Meßopfers entwich der
Mittelpunkt des Gottesdienstes, und nun stritten sich „Predigt" und „Abend¬
mahlsfeier" um den Vorrang. Luther war geneigt, das Abendmahl zu bevor¬
zugen; aber wie war dies praktisch durchzuführen? Hauptsache und Mittel¬
punkt ist doch nur dasjenige, dessen Wirkung sich über Alle als gleichmäßig


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[0419] geführter Bau mit Benutzung derjenigen Stücke alter Liturgien, die das ge¬ bildete Bewußtsein noch ansprachen. Daß man damit vorläufig etwas Un¬ vollkommenes hinstelle, wurde gleich anfangs zugegeben. Die Nachfolger, die Unionstheologen (Lücke, Sack, Dörner, Jul. Müller, Gieseler, zuletzt auch de Wette, Neander und Nitzsch, die beiden bedeutendsten aller) haben mehr oder weniger segensvoll gewirkt, doch keiner durchgreifend. Das religiöse Bedürfniß ist in Deutschland von jeher sehr groß gewesen; wer sich davon überzeugen will, muß es freilich an der rechten Quelle auf¬ suchen, da, wo es sich unbefangen offenbart. Denn dadurch hat sich das deutsche Volk auch in religiöser Hinsicht vor vielen andern immer ausgezeichnet, daß es nicht in sich versinkend und versumpfend an einer gewissen Form starr fest¬ hielt, so daß es, geleitet vom Wahrheitssinn, stets das Vollkommnere erstrebte. In diesem Streben aber in einseitigster Weise wieder auf die Confessionskirchen zurückzukommen, das war nur möglich bei einem Zustande der Ermattung und Ab¬ spannung, wie er in diesen letzten Jahren allgemein geworden ist, und unter der Obhut einer starren, mittelalterlichen Staatsidee. Die lutherische Confession betrachtete sich als beim Unionswerk zurückgesetzt (wirklich ging dieses auch mehr von reformirter Seite aus), etablirte sich sogleich als Partei der Altlutheraner, schwang sich in seinen kräftigsten Bekennern nach einigen Metamorphosen zu den höchsten Staats- und Kirchenämtern empor, und sitzt jetzt ganz wohl¬ gemut!) in Stand und Ehren. Auch Kliefath als Oberkirchenrath zu Schwerin agirt ein lutherisches Päpstlein. Die nächste Aufgabe, welche den Wiedererweckern der Particularkirchen zufiel, war: den Nachweis zu liefern, daß das durch die Union Beseitigte etwas Vollkommenes sei. Unsere neumodischen Altlutheraner, die Festigkeit des dogmatischen Bollwerks voraussetzend, brachten solches zuerst in Sachen des Cultus heraus. In diesem Sinne verfaßte Kliefath seine Schrift: „Die ur¬ sprüngliche Gottesdienstordnung in den deutschen Kirchen lu¬ therischen Bekenntnisses, ihre Destruction und Reformation." (Schwerin, Stiller. 4 847.) Wer sich mit dem Werke Luthers eingehender be¬ faßt hat, dem wird sein Schwanken hinsichtlich der neuen Cultusordnung nicht entgangen sein. Es ist lehrreich, insofern sich darin eine der endlichen Seiten dieses starken Mannes und der durch ihn hervorgerufenen Bewegung offen¬ bart. Vieles vom Gebrauch der katholischen Kirche mußte und wollte er bei¬ behalten, aber durch die veränderte Grundanschauung wurde es bald zur leeren, lästigen Form. Mit dem Hinausweisen des alten Meßopfers entwich der Mittelpunkt des Gottesdienstes, und nun stritten sich „Predigt" und „Abend¬ mahlsfeier" um den Vorrang. Luther war geneigt, das Abendmahl zu bevor¬ zugen; aber wie war dies praktisch durchzuführen? Hauptsache und Mittel¬ punkt ist doch nur dasjenige, dessen Wirkung sich über Alle als gleichmäßig 32*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/419>, abgerufen am 12.05.2024.