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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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E. M. Nrndts Tchristcn für und an seine lieben Deutschen. Zum
ersten Mal gesammelt und durch Neues vermehrt. Vierter Theil. Berlin,
Wcidmannschc Buchhandlung. 1855. --

Der soeben erschienene vierte Band der gesammelten Schriften, der zum
Theil Neues enthält, zum Theil Aufsätze, die in den letzten Jahren in ver¬
schiedenen Zeitschriften erschienen, gibt uns Veranlassung, auch der frühern
Bände mit einigen Worten zu gedenken.

Schiller sagt einmal von den ausübenden Künstlern, daß ihre Stellung
der Nachwelt gegenüber eine undankbare sei, und daß'sie sich alsdann damit
begnügen müßten, die Bedürfnisse des Tages zu befriedigen. In einem ge¬
wissen Sinn kann man das auch vom politischen Publicisten sagen, denn wenn
auch seine Stellung insofern günstiger erscheint, als seine Schriften der Nach¬
welt wirklich vorliegen, so fehlt dieser doch in der Negel der richtige Maßstab,
um die Bedeutung derselben für ihre Zeit zu würdigen. Es gibt eine Classe
von Publicisten, die dieses weniger trifft, diejenigen, welche aus den Zeiiver-
hältnissen gewissermaßen ein physiologisches Studium machen, und ohne auf
die augenblicklichen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, die bleibenden Regeln
und Ideen daraus zu gewinnen suchen. Solche Männer üben aus ihre Zeit
gewöhnlich eine sehr geringe Wirkung aus, weil man in der Hast des Han¬
delns nicht daran denken kann, sich die allgemeinen Gesichtspunkte klar zu
machen, und jeden, der nicht augenblicklich mit eingreift, für einen Müßig¬
gänger hält. Von der Nachwelt dagegen werden sie häufig überschätzt, denn
da sie ruhiger und gelassener urtheilen und von der Stimmung der Zeit sich
möglichst wenig anfechten lassen, so erhält ihr Urtheil eine gewisse Verwandt¬
schaft mit dem Urtheil der unbetheiligten Nachwelt, der es deshalb leicht als
geistreich erscheint.

' Arndt gehörte nicht zu dieser Classe. Was er schrieb, war auf die augen¬
blickliche Wirkung berechnet und halte keinen andern Zweck, als die unmittel¬
bare Stimmung in die nothwendige Richtung hinzutreiben und sie zu einem
thatkräftigen Entschluß anzuspornen. Bei solchen Schriftstellern schätzt die
Nachwelt gewöhnlich weiter nichts, als den Glanz der Redekunst, und diese ist
es nicht grade, die Arndts Schriften auszeichnet. Dagegen bieten sie dem
Historiker ein anderes und, wie uns scheint, größeres Interesse. Beider
Vielseitigkeit der Gegenstände, auf welche der deutsche Patriot damals seine
Aufmerksamkeit richten mußte, bei der Wärme und sogar Leidenschaft, die jeder
entwickeln mußte, der nur überhaupt gehört werden wollte, überrascht uns bei
Arndt doch die Folgerichtigkeit und Sicherheit"des Urtheils, die nicht aus
künstlicher Reflexion, sondern ans einem sehr starken, gesunden Menschen¬
verstand und aus der Redlichkeit deö Charakters hervorging. Seine Ansichten


E. M. Nrndts Tchristcn für und an seine lieben Deutschen. Zum
ersten Mal gesammelt und durch Neues vermehrt. Vierter Theil. Berlin,
Wcidmannschc Buchhandlung. 1855. —

Der soeben erschienene vierte Band der gesammelten Schriften, der zum
Theil Neues enthält, zum Theil Aufsätze, die in den letzten Jahren in ver¬
schiedenen Zeitschriften erschienen, gibt uns Veranlassung, auch der frühern
Bände mit einigen Worten zu gedenken.

Schiller sagt einmal von den ausübenden Künstlern, daß ihre Stellung
der Nachwelt gegenüber eine undankbare sei, und daß'sie sich alsdann damit
begnügen müßten, die Bedürfnisse des Tages zu befriedigen. In einem ge¬
wissen Sinn kann man das auch vom politischen Publicisten sagen, denn wenn
auch seine Stellung insofern günstiger erscheint, als seine Schriften der Nach¬
welt wirklich vorliegen, so fehlt dieser doch in der Negel der richtige Maßstab,
um die Bedeutung derselben für ihre Zeit zu würdigen. Es gibt eine Classe
von Publicisten, die dieses weniger trifft, diejenigen, welche aus den Zeiiver-
hältnissen gewissermaßen ein physiologisches Studium machen, und ohne auf
die augenblicklichen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, die bleibenden Regeln
und Ideen daraus zu gewinnen suchen. Solche Männer üben aus ihre Zeit
gewöhnlich eine sehr geringe Wirkung aus, weil man in der Hast des Han¬
delns nicht daran denken kann, sich die allgemeinen Gesichtspunkte klar zu
machen, und jeden, der nicht augenblicklich mit eingreift, für einen Müßig¬
gänger hält. Von der Nachwelt dagegen werden sie häufig überschätzt, denn
da sie ruhiger und gelassener urtheilen und von der Stimmung der Zeit sich
möglichst wenig anfechten lassen, so erhält ihr Urtheil eine gewisse Verwandt¬
schaft mit dem Urtheil der unbetheiligten Nachwelt, der es deshalb leicht als
geistreich erscheint.

' Arndt gehörte nicht zu dieser Classe. Was er schrieb, war auf die augen¬
blickliche Wirkung berechnet und halte keinen andern Zweck, als die unmittel¬
bare Stimmung in die nothwendige Richtung hinzutreiben und sie zu einem
thatkräftigen Entschluß anzuspornen. Bei solchen Schriftstellern schätzt die
Nachwelt gewöhnlich weiter nichts, als den Glanz der Redekunst, und diese ist
es nicht grade, die Arndts Schriften auszeichnet. Dagegen bieten sie dem
Historiker ein anderes und, wie uns scheint, größeres Interesse. Beider
Vielseitigkeit der Gegenstände, auf welche der deutsche Patriot damals seine
Aufmerksamkeit richten mußte, bei der Wärme und sogar Leidenschaft, die jeder
entwickeln mußte, der nur überhaupt gehört werden wollte, überrascht uns bei
Arndt doch die Folgerichtigkeit und Sicherheit«des Urtheils, die nicht aus
künstlicher Reflexion, sondern ans einem sehr starken, gesunden Menschen¬
verstand und aus der Redlichkeit deö Charakters hervorging. Seine Ansichten


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[0370] E. M. Nrndts Tchristcn für und an seine lieben Deutschen. Zum ersten Mal gesammelt und durch Neues vermehrt. Vierter Theil. Berlin, Wcidmannschc Buchhandlung. 1855. — Der soeben erschienene vierte Band der gesammelten Schriften, der zum Theil Neues enthält, zum Theil Aufsätze, die in den letzten Jahren in ver¬ schiedenen Zeitschriften erschienen, gibt uns Veranlassung, auch der frühern Bände mit einigen Worten zu gedenken. Schiller sagt einmal von den ausübenden Künstlern, daß ihre Stellung der Nachwelt gegenüber eine undankbare sei, und daß'sie sich alsdann damit begnügen müßten, die Bedürfnisse des Tages zu befriedigen. In einem ge¬ wissen Sinn kann man das auch vom politischen Publicisten sagen, denn wenn auch seine Stellung insofern günstiger erscheint, als seine Schriften der Nach¬ welt wirklich vorliegen, so fehlt dieser doch in der Negel der richtige Maßstab, um die Bedeutung derselben für ihre Zeit zu würdigen. Es gibt eine Classe von Publicisten, die dieses weniger trifft, diejenigen, welche aus den Zeiiver- hältnissen gewissermaßen ein physiologisches Studium machen, und ohne auf die augenblicklichen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, die bleibenden Regeln und Ideen daraus zu gewinnen suchen. Solche Männer üben aus ihre Zeit gewöhnlich eine sehr geringe Wirkung aus, weil man in der Hast des Han¬ delns nicht daran denken kann, sich die allgemeinen Gesichtspunkte klar zu machen, und jeden, der nicht augenblicklich mit eingreift, für einen Müßig¬ gänger hält. Von der Nachwelt dagegen werden sie häufig überschätzt, denn da sie ruhiger und gelassener urtheilen und von der Stimmung der Zeit sich möglichst wenig anfechten lassen, so erhält ihr Urtheil eine gewisse Verwandt¬ schaft mit dem Urtheil der unbetheiligten Nachwelt, der es deshalb leicht als geistreich erscheint. ' Arndt gehörte nicht zu dieser Classe. Was er schrieb, war auf die augen¬ blickliche Wirkung berechnet und halte keinen andern Zweck, als die unmittel¬ bare Stimmung in die nothwendige Richtung hinzutreiben und sie zu einem thatkräftigen Entschluß anzuspornen. Bei solchen Schriftstellern schätzt die Nachwelt gewöhnlich weiter nichts, als den Glanz der Redekunst, und diese ist es nicht grade, die Arndts Schriften auszeichnet. Dagegen bieten sie dem Historiker ein anderes und, wie uns scheint, größeres Interesse. Beider Vielseitigkeit der Gegenstände, auf welche der deutsche Patriot damals seine Aufmerksamkeit richten mußte, bei der Wärme und sogar Leidenschaft, die jeder entwickeln mußte, der nur überhaupt gehört werden wollte, überrascht uns bei Arndt doch die Folgerichtigkeit und Sicherheit«des Urtheils, die nicht aus künstlicher Reflexion, sondern ans einem sehr starken, gesunden Menschen¬ verstand und aus der Redlichkeit deö Charakters hervorging. Seine Ansichten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/370>, abgerufen am 06.05.2024.