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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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nicht blos aus das Material, sondern auch auf die Formen und Gesetze der Kunst,
in der er arbeitet, seine Studien wendet. --


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Wenn von Seiten aller Philosophen und Lehrer die sogenannte Menschen¬
kenntnis; als das fruchtbarste und dankenswertheste Studium empfohlen wird, so
versteht man häufig nichts Anderes darunter, als die Kenntniß der menschlichen
Schwächen. Die Menschen sind darauf angewiesen, einander zu benutzen; um da¬
rin geschickt zu sein, müssen sie die verwundbaren Stellen ihrer Gegner kennen und
als Gegner erscheinen nach diesem Lebensprincip alle übrigen Menschen. Diese Phi¬
losophie des Egoismus, die sich auch in Goethes späteren Epigrammen ausspricht,
ist wol der erste Grund zu jener Virtuosität im Analhsiren menschlicher Empfin¬
dungen, die sich bei unsern neuesten Romanschriftstellern so auffallend zeigt. Es gibt
aber noch einen zweiten, der weniger lobenswerth ist. Man findet häusig,
daß die schärfsten mikroskopischen Beobachter, die beim ersten Anblick einer
neuen Person augenblicklich alle ihre kleinen Schattenseiten weghaben, nicht
grade die kräftigsten Naturen sind; aber es gewährt ihnen ein eigenthümliches
Vergnügen, durch den Anblick der Schwäche andrer sich über ihre eigne Schwäche
zu trösten. Sie wenden ihre Kenntniß nicht grade zu bestimmten Zwecken an,
sie begnügen sich damit, sie zu baben, und betrachten jeden neugewonnenen
Einblick in irgend eine Narrheit oder Heuchelei als einen Triumph über die
menschliche Natur. Es ist nicht immer Bosheit, was die ironische Schaden¬
freude hervorruft, im Gegentheil sind diese feinen Menschenkenner häufig sehr
gutmüthig und gestatten ter fremden Individualität das vollste Recht zur
Existenz, wenn man ihnen die'eigne nur nicht bestreitet. Ein entschlossener,
seiner Kraft vertrauender Mensch gibt sich nicht viel mit mikroskopischen Studien
ab, da er überzeugt ist, im entscheidenden Augenblick, wenn er keine verwund¬
bare Stelle findet, den ganzen Menschen mit einem Kolbenstreich niederzu¬
strecken. Und so möchten wir es auch von dem Dichter sagen. Der wahrhaft
große Dichter wird sich nicht ängstlich um kleine Züge bekümmern, weil seine
Seele, wenn sie einmal in Bewegung und Schwung geräth, aus sich selbst
heraus das Nöthige in hinreichender Fülle producirt. Man lese ein shake-
spearisches Stück, z. B. Othello, mit Aufmerksamkeit und suche sich in die
Seele des Dichters zu versetzen. Ganz ohne vorhergehende Naturbeobachtung
ist ein solches Gemälde der Leidenschaft freilich nicht möglich; aber bei den
gewaltigsten, ergreifendsten Zügen der Eifersucht und des Hasses muß man sich
sagen: das hat er nicht aus früherer Beobachtung, sondern das ist ihm in
demselben Augenblick durch die richtige Stimmung seiner Seele eingegeben.
Die poetische Inspiration kommt nicht von außen, sondern von innen, denn


nicht blos aus das Material, sondern auch auf die Formen und Gesetze der Kunst,
in der er arbeitet, seine Studien wendet. —


'I'Ko ktoweomos. Nemoirvü ot i> most. rosjivewblv l'.'lui!)-. W. N.'I'bli clivrus.
Kvsivr'iglil, lilliliv». In so»»' voluniks. I^i>>/.i^, liai nluuä '1'liuelini^. —

Wenn von Seiten aller Philosophen und Lehrer die sogenannte Menschen¬
kenntnis; als das fruchtbarste und dankenswertheste Studium empfohlen wird, so
versteht man häufig nichts Anderes darunter, als die Kenntniß der menschlichen
Schwächen. Die Menschen sind darauf angewiesen, einander zu benutzen; um da¬
rin geschickt zu sein, müssen sie die verwundbaren Stellen ihrer Gegner kennen und
als Gegner erscheinen nach diesem Lebensprincip alle übrigen Menschen. Diese Phi¬
losophie des Egoismus, die sich auch in Goethes späteren Epigrammen ausspricht,
ist wol der erste Grund zu jener Virtuosität im Analhsiren menschlicher Empfin¬
dungen, die sich bei unsern neuesten Romanschriftstellern so auffallend zeigt. Es gibt
aber noch einen zweiten, der weniger lobenswerth ist. Man findet häusig,
daß die schärfsten mikroskopischen Beobachter, die beim ersten Anblick einer
neuen Person augenblicklich alle ihre kleinen Schattenseiten weghaben, nicht
grade die kräftigsten Naturen sind; aber es gewährt ihnen ein eigenthümliches
Vergnügen, durch den Anblick der Schwäche andrer sich über ihre eigne Schwäche
zu trösten. Sie wenden ihre Kenntniß nicht grade zu bestimmten Zwecken an,
sie begnügen sich damit, sie zu baben, und betrachten jeden neugewonnenen
Einblick in irgend eine Narrheit oder Heuchelei als einen Triumph über die
menschliche Natur. Es ist nicht immer Bosheit, was die ironische Schaden¬
freude hervorruft, im Gegentheil sind diese feinen Menschenkenner häufig sehr
gutmüthig und gestatten ter fremden Individualität das vollste Recht zur
Existenz, wenn man ihnen die'eigne nur nicht bestreitet. Ein entschlossener,
seiner Kraft vertrauender Mensch gibt sich nicht viel mit mikroskopischen Studien
ab, da er überzeugt ist, im entscheidenden Augenblick, wenn er keine verwund¬
bare Stelle findet, den ganzen Menschen mit einem Kolbenstreich niederzu¬
strecken. Und so möchten wir es auch von dem Dichter sagen. Der wahrhaft
große Dichter wird sich nicht ängstlich um kleine Züge bekümmern, weil seine
Seele, wenn sie einmal in Bewegung und Schwung geräth, aus sich selbst
heraus das Nöthige in hinreichender Fülle producirt. Man lese ein shake-
spearisches Stück, z. B. Othello, mit Aufmerksamkeit und suche sich in die
Seele des Dichters zu versetzen. Ganz ohne vorhergehende Naturbeobachtung
ist ein solches Gemälde der Leidenschaft freilich nicht möglich; aber bei den
gewaltigsten, ergreifendsten Zügen der Eifersucht und des Hasses muß man sich
sagen: das hat er nicht aus früherer Beobachtung, sondern das ist ihm in
demselben Augenblick durch die richtige Stimmung seiner Seele eingegeben.
Die poetische Inspiration kommt nicht von außen, sondern von innen, denn


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[0413] nicht blos aus das Material, sondern auch auf die Formen und Gesetze der Kunst, in der er arbeitet, seine Studien wendet. — 'I'Ko ktoweomos. Nemoirvü ot i> most. rosjivewblv l'.'lui!)-. W. N.'I'bli clivrus. Kvsivr'iglil, lilliliv». In so»»' voluniks. I^i>>/.i^, liai nluuä '1'liuelini^. — Wenn von Seiten aller Philosophen und Lehrer die sogenannte Menschen¬ kenntnis; als das fruchtbarste und dankenswertheste Studium empfohlen wird, so versteht man häufig nichts Anderes darunter, als die Kenntniß der menschlichen Schwächen. Die Menschen sind darauf angewiesen, einander zu benutzen; um da¬ rin geschickt zu sein, müssen sie die verwundbaren Stellen ihrer Gegner kennen und als Gegner erscheinen nach diesem Lebensprincip alle übrigen Menschen. Diese Phi¬ losophie des Egoismus, die sich auch in Goethes späteren Epigrammen ausspricht, ist wol der erste Grund zu jener Virtuosität im Analhsiren menschlicher Empfin¬ dungen, die sich bei unsern neuesten Romanschriftstellern so auffallend zeigt. Es gibt aber noch einen zweiten, der weniger lobenswerth ist. Man findet häusig, daß die schärfsten mikroskopischen Beobachter, die beim ersten Anblick einer neuen Person augenblicklich alle ihre kleinen Schattenseiten weghaben, nicht grade die kräftigsten Naturen sind; aber es gewährt ihnen ein eigenthümliches Vergnügen, durch den Anblick der Schwäche andrer sich über ihre eigne Schwäche zu trösten. Sie wenden ihre Kenntniß nicht grade zu bestimmten Zwecken an, sie begnügen sich damit, sie zu baben, und betrachten jeden neugewonnenen Einblick in irgend eine Narrheit oder Heuchelei als einen Triumph über die menschliche Natur. Es ist nicht immer Bosheit, was die ironische Schaden¬ freude hervorruft, im Gegentheil sind diese feinen Menschenkenner häufig sehr gutmüthig und gestatten ter fremden Individualität das vollste Recht zur Existenz, wenn man ihnen die'eigne nur nicht bestreitet. Ein entschlossener, seiner Kraft vertrauender Mensch gibt sich nicht viel mit mikroskopischen Studien ab, da er überzeugt ist, im entscheidenden Augenblick, wenn er keine verwund¬ bare Stelle findet, den ganzen Menschen mit einem Kolbenstreich niederzu¬ strecken. Und so möchten wir es auch von dem Dichter sagen. Der wahrhaft große Dichter wird sich nicht ängstlich um kleine Züge bekümmern, weil seine Seele, wenn sie einmal in Bewegung und Schwung geräth, aus sich selbst heraus das Nöthige in hinreichender Fülle producirt. Man lese ein shake- spearisches Stück, z. B. Othello, mit Aufmerksamkeit und suche sich in die Seele des Dichters zu versetzen. Ganz ohne vorhergehende Naturbeobachtung ist ein solches Gemälde der Leidenschaft freilich nicht möglich; aber bei den gewaltigsten, ergreifendsten Zügen der Eifersucht und des Hasses muß man sich sagen: das hat er nicht aus früherer Beobachtung, sondern das ist ihm in demselben Augenblick durch die richtige Stimmung seiner Seele eingegeben. Die poetische Inspiration kommt nicht von außen, sondern von innen, denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/413>, abgerufen am 06.05.2024.