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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Politische Ferien.

Politische Resultate der letzten zehn Jahre für Deutschland. Von
Gustav Diezel. Gotha, S-beubc. --

Träge und verdrossen sehen wir den Strom der deutschen Politik dahin
fließen, so langsam und unsicher, daß wir kaum unterscheiden, nach welcher
Seite er gehl. Eine tiefe Verstimmung hat sich des Volkes bemächtigt, es ist
nicht grade daS Gefühl eines starken unmittelbaren Drucks, im Gegentheil
selbst in den Ländern, wo die Reaction am leidenschaftlichsten aufgetreten ist,
scheint sie sich zuletzt den Bedingungen des gemeinen bürgerlichen Lebens ge¬
fügt zu haben; zufrieden mit dem Sieg über ihre politischen Gegner und mit
dem Machtbesitz deö Augenblicks, legt sie die Doctrinen, mit denen sie den
Kampf begann, vorläufig zu den Acten und läßt sich im Wesentlichen von
den althergebrachten Grundsätzen des Staatslebens bestimmen. Wie viel ge¬
rechte Klagen im Einzelnen vorkommen, im Ganzen macht sich die Re¬
pressiv" der Regierungen viel weniger fühlbar als 18i7; jene Verstimmung
hat einen andern Grund. Auch eine unterdrückte Nation hegt zuweilen Sym-
V"'hie für ihre Unterdrücker, wenn sie Kraft, concentrirten Willen und Selbst¬
gefühl bet ihnen findet, und dies sind Eigenschaften, nach denen wir uns in
den Kreisen der politischen Thätigkeit vergebens umsehen. Es ist so weit
gekommen, daß in der wichtigsten nationalen Angelegenheit, in der Sache
Schleswig-Holsteins, aufrichtige und einsichtsvolle Patrioten den stillen Wunsch
hegen, oder ihn auch wol laut aussprechen, eS möchte vorläufig nichts ge¬
schehen, damit nicht zu den vielen moralischen Niederlagen, durch die Deutsch¬
land in den letzten Jahren betroffen ist, noch eine neue hinzugefügt werde.

Vor 1848 hatte der Liberalismus ein sehr wohlfeiles Mittel, sich diese
quälenden Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, er machte nicht blos für
alles Böse und Schädliche, sondern auch für alle Kraftlosigkeit der deutschen
Zustände ausschließlich die Regierungen verantwortlich, und schmeichelte sich mit
der süßen Illusion, es werde von den, Augenblick alles besser gehen, wo ihm
einmal das Heft in die Hand gegeben wäre. Seitdem ist aber der Augenblick
gekommen, und der Liberalismus ist nicht nur der feindlichen Macht erlegen,
sondern er ist unpopulär geworben. Wir gebrauchen absichtlich diesen unklaren


Grenzboten IV. 1867. 6
Politische Ferien.

Politische Resultate der letzten zehn Jahre für Deutschland. Von
Gustav Diezel. Gotha, S-beubc. —

Träge und verdrossen sehen wir den Strom der deutschen Politik dahin
fließen, so langsam und unsicher, daß wir kaum unterscheiden, nach welcher
Seite er gehl. Eine tiefe Verstimmung hat sich des Volkes bemächtigt, es ist
nicht grade daS Gefühl eines starken unmittelbaren Drucks, im Gegentheil
selbst in den Ländern, wo die Reaction am leidenschaftlichsten aufgetreten ist,
scheint sie sich zuletzt den Bedingungen des gemeinen bürgerlichen Lebens ge¬
fügt zu haben; zufrieden mit dem Sieg über ihre politischen Gegner und mit
dem Machtbesitz deö Augenblicks, legt sie die Doctrinen, mit denen sie den
Kampf begann, vorläufig zu den Acten und läßt sich im Wesentlichen von
den althergebrachten Grundsätzen des Staatslebens bestimmen. Wie viel ge¬
rechte Klagen im Einzelnen vorkommen, im Ganzen macht sich die Re¬
pressiv» der Regierungen viel weniger fühlbar als 18i7; jene Verstimmung
hat einen andern Grund. Auch eine unterdrückte Nation hegt zuweilen Sym-
V"'hie für ihre Unterdrücker, wenn sie Kraft, concentrirten Willen und Selbst¬
gefühl bet ihnen findet, und dies sind Eigenschaften, nach denen wir uns in
den Kreisen der politischen Thätigkeit vergebens umsehen. Es ist so weit
gekommen, daß in der wichtigsten nationalen Angelegenheit, in der Sache
Schleswig-Holsteins, aufrichtige und einsichtsvolle Patrioten den stillen Wunsch
hegen, oder ihn auch wol laut aussprechen, eS möchte vorläufig nichts ge¬
schehen, damit nicht zu den vielen moralischen Niederlagen, durch die Deutsch¬
land in den letzten Jahren betroffen ist, noch eine neue hinzugefügt werde.

Vor 1848 hatte der Liberalismus ein sehr wohlfeiles Mittel, sich diese
quälenden Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, er machte nicht blos für
alles Böse und Schädliche, sondern auch für alle Kraftlosigkeit der deutschen
Zustände ausschließlich die Regierungen verantwortlich, und schmeichelte sich mit
der süßen Illusion, es werde von den, Augenblick alles besser gehen, wo ihm
einmal das Heft in die Hand gegeben wäre. Seitdem ist aber der Augenblick
gekommen, und der Liberalismus ist nicht nur der feindlichen Macht erlegen,
sondern er ist unpopulär geworben. Wir gebrauchen absichtlich diesen unklaren


Grenzboten IV. 1867. 6
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[0049] Politische Ferien. Politische Resultate der letzten zehn Jahre für Deutschland. Von Gustav Diezel. Gotha, S-beubc. — Träge und verdrossen sehen wir den Strom der deutschen Politik dahin fließen, so langsam und unsicher, daß wir kaum unterscheiden, nach welcher Seite er gehl. Eine tiefe Verstimmung hat sich des Volkes bemächtigt, es ist nicht grade daS Gefühl eines starken unmittelbaren Drucks, im Gegentheil selbst in den Ländern, wo die Reaction am leidenschaftlichsten aufgetreten ist, scheint sie sich zuletzt den Bedingungen des gemeinen bürgerlichen Lebens ge¬ fügt zu haben; zufrieden mit dem Sieg über ihre politischen Gegner und mit dem Machtbesitz deö Augenblicks, legt sie die Doctrinen, mit denen sie den Kampf begann, vorläufig zu den Acten und läßt sich im Wesentlichen von den althergebrachten Grundsätzen des Staatslebens bestimmen. Wie viel ge¬ rechte Klagen im Einzelnen vorkommen, im Ganzen macht sich die Re¬ pressiv» der Regierungen viel weniger fühlbar als 18i7; jene Verstimmung hat einen andern Grund. Auch eine unterdrückte Nation hegt zuweilen Sym- V"'hie für ihre Unterdrücker, wenn sie Kraft, concentrirten Willen und Selbst¬ gefühl bet ihnen findet, und dies sind Eigenschaften, nach denen wir uns in den Kreisen der politischen Thätigkeit vergebens umsehen. Es ist so weit gekommen, daß in der wichtigsten nationalen Angelegenheit, in der Sache Schleswig-Holsteins, aufrichtige und einsichtsvolle Patrioten den stillen Wunsch hegen, oder ihn auch wol laut aussprechen, eS möchte vorläufig nichts ge¬ schehen, damit nicht zu den vielen moralischen Niederlagen, durch die Deutsch¬ land in den letzten Jahren betroffen ist, noch eine neue hinzugefügt werde. Vor 1848 hatte der Liberalismus ein sehr wohlfeiles Mittel, sich diese quälenden Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, er machte nicht blos für alles Böse und Schädliche, sondern auch für alle Kraftlosigkeit der deutschen Zustände ausschließlich die Regierungen verantwortlich, und schmeichelte sich mit der süßen Illusion, es werde von den, Augenblick alles besser gehen, wo ihm einmal das Heft in die Hand gegeben wäre. Seitdem ist aber der Augenblick gekommen, und der Liberalismus ist nicht nur der feindlichen Macht erlegen, sondern er ist unpopulär geworben. Wir gebrauchen absichtlich diesen unklaren Grenzboten IV. 1867. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/49>, abgerufen am 30.04.2024.