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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Eine neue Philosophie der Geschichte.

Geschichte der Civilisation in England, von H. Th. Buckle, übersetzt von A. Rüge.
1. Bd. Leipzig, Winter.

Die Philosophie der Geschichte beginnt in Deutschland ungefähr in der¬
selben Zeit, wo die Poesie jenen gewaltigen Aufschwung nimmt, der noch
heute in leisen Schwingungen fortdauert, um die Mitte der siebziger Jahre.
Freilich hatte sie bereits ihre Vorgänger, und Herder, dem sie ihre Populari¬
tät verdankt, nannte seinen ersten Versuch 1774 "Auch eine Philosophie
der Geschichte." Jene Experimente im allgemeinen gehen von dem ganz
richtigen Gefühl aus, daß mit der Erzählung der Begebenheiten, welche
den Kaisern und Königen, den Richtern und' Heroen, kurz den bevor¬
zugten Individuen zugestoßen sind, deren Schicksal uns anzieht und rührt,
das letzte Wort in der Geschichte noch nicht gesprochen sein darf, daß wir
nach einem innern Zusammenhang dieser Begebenheiten zu suchen haben, und
daß der Faden dieses Zusammenhangs aus dem Gebiete der Ideen genommen
werden muß. Allein früher suchte man den Faden entweder in der chnstlichen
Theologie, und schätzte alles, was geschehen war, einseitig nach seiner Bezieh¬
ung auf die Ausbreitung des Christenthums; oder wenn man auf der ent¬
gegengesetzten Seite stand, so bemühte man sich nur, den Fortschritt der Aus¬
klärung und des materiellen Wohlseins zu erforschen, nach welchem letztern
Gesichtspunkt eine Masse beliebter Lehrbücher abgefaßt waren. Herder dage¬
gen suchte alle das Leben bewegende und heiligende Mächte. Religion, Kunst,
Wissenschaft, Moralität u. s. w. gleichmäßig zu umfassen und ihr Ineinander¬
greifen zu verstehen; er vertiefte sich, so gut er konnte, in den Geist jeder ein¬
zelnen Zeit, jedes einzelnen Volks, so daß er die bevorzugten Individualitäten
der Geschichte nicht verminderte, sondern vermehrte. Er entdeckte gewisser¬
maßen die Seelen der Volker, deren Charaktere und Schicksale ebenso anziehend
waren als die der einzelnen Heroen. Er sah in der Religion und Poesie den
natürlichsten, aber zugleich den edelsten Ausdruck dieser Volksseelen, und be¬
stimmte für die Ideen den realen Boden, durch den sie zugleich Leben und
Körperlichkeit gewannen. Es waren nur Versuche, nicht frei von Irrthümern
und Gewaltthätigkeiten, aber Versuche, die auf die Bildung den günstigsten
Einfluß ausübten und nicht wenig dazu beitrugen, unsere eigene Poesie zu
fördern. Den Werth und die Bedeutung dieser Versuche ermißt man nur.
wenn man einen Blick auf die Ansichten der Gegner wirft. Ein übrigens
höchst achtbarer Mann, der bekannte Campe, stellt einmal die Behauptung
auf. der Erfinder einer Spinnmaschine sei für das Glück der Menschheit wich¬
tiger gewesen als Homer: und in dieser Ansicht liegt der eigentliche Kern der


Grenzboten I. 1860. 38
Eine neue Philosophie der Geschichte.

Geschichte der Civilisation in England, von H. Th. Buckle, übersetzt von A. Rüge.
1. Bd. Leipzig, Winter.

Die Philosophie der Geschichte beginnt in Deutschland ungefähr in der¬
selben Zeit, wo die Poesie jenen gewaltigen Aufschwung nimmt, der noch
heute in leisen Schwingungen fortdauert, um die Mitte der siebziger Jahre.
Freilich hatte sie bereits ihre Vorgänger, und Herder, dem sie ihre Populari¬
tät verdankt, nannte seinen ersten Versuch 1774 „Auch eine Philosophie
der Geschichte." Jene Experimente im allgemeinen gehen von dem ganz
richtigen Gefühl aus, daß mit der Erzählung der Begebenheiten, welche
den Kaisern und Königen, den Richtern und' Heroen, kurz den bevor¬
zugten Individuen zugestoßen sind, deren Schicksal uns anzieht und rührt,
das letzte Wort in der Geschichte noch nicht gesprochen sein darf, daß wir
nach einem innern Zusammenhang dieser Begebenheiten zu suchen haben, und
daß der Faden dieses Zusammenhangs aus dem Gebiete der Ideen genommen
werden muß. Allein früher suchte man den Faden entweder in der chnstlichen
Theologie, und schätzte alles, was geschehen war, einseitig nach seiner Bezieh¬
ung auf die Ausbreitung des Christenthums; oder wenn man auf der ent¬
gegengesetzten Seite stand, so bemühte man sich nur, den Fortschritt der Aus¬
klärung und des materiellen Wohlseins zu erforschen, nach welchem letztern
Gesichtspunkt eine Masse beliebter Lehrbücher abgefaßt waren. Herder dage¬
gen suchte alle das Leben bewegende und heiligende Mächte. Religion, Kunst,
Wissenschaft, Moralität u. s. w. gleichmäßig zu umfassen und ihr Ineinander¬
greifen zu verstehen; er vertiefte sich, so gut er konnte, in den Geist jeder ein¬
zelnen Zeit, jedes einzelnen Volks, so daß er die bevorzugten Individualitäten
der Geschichte nicht verminderte, sondern vermehrte. Er entdeckte gewisser¬
maßen die Seelen der Volker, deren Charaktere und Schicksale ebenso anziehend
waren als die der einzelnen Heroen. Er sah in der Religion und Poesie den
natürlichsten, aber zugleich den edelsten Ausdruck dieser Volksseelen, und be¬
stimmte für die Ideen den realen Boden, durch den sie zugleich Leben und
Körperlichkeit gewannen. Es waren nur Versuche, nicht frei von Irrthümern
und Gewaltthätigkeiten, aber Versuche, die auf die Bildung den günstigsten
Einfluß ausübten und nicht wenig dazu beitrugen, unsere eigene Poesie zu
fördern. Den Werth und die Bedeutung dieser Versuche ermißt man nur.
wenn man einen Blick auf die Ansichten der Gegner wirft. Ein übrigens
höchst achtbarer Mann, der bekannte Campe, stellt einmal die Behauptung
auf. der Erfinder einer Spinnmaschine sei für das Glück der Menschheit wich¬
tiger gewesen als Homer: und in dieser Ansicht liegt der eigentliche Kern der


Grenzboten I. 1860. 38
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[0309] Eine neue Philosophie der Geschichte. Geschichte der Civilisation in England, von H. Th. Buckle, übersetzt von A. Rüge. 1. Bd. Leipzig, Winter. Die Philosophie der Geschichte beginnt in Deutschland ungefähr in der¬ selben Zeit, wo die Poesie jenen gewaltigen Aufschwung nimmt, der noch heute in leisen Schwingungen fortdauert, um die Mitte der siebziger Jahre. Freilich hatte sie bereits ihre Vorgänger, und Herder, dem sie ihre Populari¬ tät verdankt, nannte seinen ersten Versuch 1774 „Auch eine Philosophie der Geschichte." Jene Experimente im allgemeinen gehen von dem ganz richtigen Gefühl aus, daß mit der Erzählung der Begebenheiten, welche den Kaisern und Königen, den Richtern und' Heroen, kurz den bevor¬ zugten Individuen zugestoßen sind, deren Schicksal uns anzieht und rührt, das letzte Wort in der Geschichte noch nicht gesprochen sein darf, daß wir nach einem innern Zusammenhang dieser Begebenheiten zu suchen haben, und daß der Faden dieses Zusammenhangs aus dem Gebiete der Ideen genommen werden muß. Allein früher suchte man den Faden entweder in der chnstlichen Theologie, und schätzte alles, was geschehen war, einseitig nach seiner Bezieh¬ ung auf die Ausbreitung des Christenthums; oder wenn man auf der ent¬ gegengesetzten Seite stand, so bemühte man sich nur, den Fortschritt der Aus¬ klärung und des materiellen Wohlseins zu erforschen, nach welchem letztern Gesichtspunkt eine Masse beliebter Lehrbücher abgefaßt waren. Herder dage¬ gen suchte alle das Leben bewegende und heiligende Mächte. Religion, Kunst, Wissenschaft, Moralität u. s. w. gleichmäßig zu umfassen und ihr Ineinander¬ greifen zu verstehen; er vertiefte sich, so gut er konnte, in den Geist jeder ein¬ zelnen Zeit, jedes einzelnen Volks, so daß er die bevorzugten Individualitäten der Geschichte nicht verminderte, sondern vermehrte. Er entdeckte gewisser¬ maßen die Seelen der Volker, deren Charaktere und Schicksale ebenso anziehend waren als die der einzelnen Heroen. Er sah in der Religion und Poesie den natürlichsten, aber zugleich den edelsten Ausdruck dieser Volksseelen, und be¬ stimmte für die Ideen den realen Boden, durch den sie zugleich Leben und Körperlichkeit gewannen. Es waren nur Versuche, nicht frei von Irrthümern und Gewaltthätigkeiten, aber Versuche, die auf die Bildung den günstigsten Einfluß ausübten und nicht wenig dazu beitrugen, unsere eigene Poesie zu fördern. Den Werth und die Bedeutung dieser Versuche ermißt man nur. wenn man einen Blick auf die Ansichten der Gegner wirft. Ein übrigens höchst achtbarer Mann, der bekannte Campe, stellt einmal die Behauptung auf. der Erfinder einer Spinnmaschine sei für das Glück der Menschheit wich¬ tiger gewesen als Homer: und in dieser Ansicht liegt der eigentliche Kern der Grenzboten I. 1860. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/309>, abgerufen am 29.04.2024.