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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Gesandte nach Paris, kehrt den 5, März zurück; an demselben Tage erklärt
Marschall Vaillnnt dem Gouverneur von Mailand, die französischen Truppen
würden sofort die Lombardei verlassen, wenn Toskana einverleibt würde.

Im englischen Parlament donnert der Adel gegen die Uebergriffe des
Bonapartismus, das Vorspiel zu einer Eroberung Belgiens und der Rhein-
lande: Manners 2. März, Fitzgerald 5. März, Ellenborough 6. März. Russell
spricht stets einige mehr oder minder passende Worte; Palmerston schweigt wie
Herr von Schleinitz; der Quäker Bright dagegen ruft regelmäßig, zum Aerger
des Adels, mit kaufmännischer Behaglichkeit: ihr werdet doch nicht Geld dafür
ausgeben wollen, was für Fahnen man aus dem Montblanc aufpflanzt! --
Die Times, moralisch sehr über Napoleon entrüstet, steckt im V.oraus jeden
Minister, der so eine Idee haben sollte, ins Irrenhaus, das Parlament verwirft
das im Sinn des Adels gehaltene Amendement Horsman mit 232 : 56 Stim¬
men, und votirt die Dankadresse für den Handelsvertrag, d. h. für das fran¬
zösische Bündniß.

Welches ist nun das "Sprichwort", das dieser Conwdie zu Grunde liegt?
-- Welcher von den Betheiligten lügt am dreistesten? Wer wird am riesen¬
haftesten belogen? Und wer soll die Kosten tragen?

Vielleicht geben die nächsten Tage Antwort -- auf alle Fülle aber: es ist
eine tolle Welt, in der wir leben; und es ist nichts so unglaublich, als was
1' 1- wirtlich ist.




Ästhetische Streisziige.
, ' 4.

Trotz der großen und wahrhaft schöpferischen Kräfte, die unsere Literatur
seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts entwickelt, trotz ihres angestrengten
Kampfes gegen den Einfluß des Auslandes, durch welchen früher alle Ursprüng-
lichkeit erstickt wurde, hat sie sich demselben nicht ganz entziehen können, und
es ist namentlich die leichtere populäre Literatur der Engländer und Franzo¬
sen, die unsern einheimischen Erzengnissen Concurrenz macht. Den Nachtheil
dieses Einflusses wird Niemand in Abrede stellen können, aber er hat auch
seine guten Folgen gehabt. Unsere Poesie hatte selbst in der besten Zeit die
Neigung zum Fragmentarischen, und dieses führt, wenn das bloße Talent in
die Fuszstapfen des souveränen Genies tritt, nothwendig zum Unkünstlerischen.
Psychologische Probleme, deren Lösung der Dichter blos errathen ließ, oder
deren Hautgout grade darin bestand, daß sie unlösbar waren, Erzählungen,
deren innerer Zusammenhang sich dem natürlichen Verstand entzog, Theater-


Gesandte nach Paris, kehrt den 5, März zurück; an demselben Tage erklärt
Marschall Vaillnnt dem Gouverneur von Mailand, die französischen Truppen
würden sofort die Lombardei verlassen, wenn Toskana einverleibt würde.

Im englischen Parlament donnert der Adel gegen die Uebergriffe des
Bonapartismus, das Vorspiel zu einer Eroberung Belgiens und der Rhein-
lande: Manners 2. März, Fitzgerald 5. März, Ellenborough 6. März. Russell
spricht stets einige mehr oder minder passende Worte; Palmerston schweigt wie
Herr von Schleinitz; der Quäker Bright dagegen ruft regelmäßig, zum Aerger
des Adels, mit kaufmännischer Behaglichkeit: ihr werdet doch nicht Geld dafür
ausgeben wollen, was für Fahnen man aus dem Montblanc aufpflanzt! —
Die Times, moralisch sehr über Napoleon entrüstet, steckt im V.oraus jeden
Minister, der so eine Idee haben sollte, ins Irrenhaus, das Parlament verwirft
das im Sinn des Adels gehaltene Amendement Horsman mit 232 : 56 Stim¬
men, und votirt die Dankadresse für den Handelsvertrag, d. h. für das fran¬
zösische Bündniß.

Welches ist nun das „Sprichwort", das dieser Conwdie zu Grunde liegt?
— Welcher von den Betheiligten lügt am dreistesten? Wer wird am riesen¬
haftesten belogen? Und wer soll die Kosten tragen?

Vielleicht geben die nächsten Tage Antwort — auf alle Fülle aber: es ist
eine tolle Welt, in der wir leben; und es ist nichts so unglaublich, als was
1' 1- wirtlich ist.




Ästhetische Streisziige.
, ' 4.

Trotz der großen und wahrhaft schöpferischen Kräfte, die unsere Literatur
seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts entwickelt, trotz ihres angestrengten
Kampfes gegen den Einfluß des Auslandes, durch welchen früher alle Ursprüng-
lichkeit erstickt wurde, hat sie sich demselben nicht ganz entziehen können, und
es ist namentlich die leichtere populäre Literatur der Engländer und Franzo¬
sen, die unsern einheimischen Erzengnissen Concurrenz macht. Den Nachtheil
dieses Einflusses wird Niemand in Abrede stellen können, aber er hat auch
seine guten Folgen gehabt. Unsere Poesie hatte selbst in der besten Zeit die
Neigung zum Fragmentarischen, und dieses führt, wenn das bloße Talent in
die Fuszstapfen des souveränen Genies tritt, nothwendig zum Unkünstlerischen.
Psychologische Probleme, deren Lösung der Dichter blos errathen ließ, oder
deren Hautgout grade darin bestand, daß sie unlösbar waren, Erzählungen,
deren innerer Zusammenhang sich dem natürlichen Verstand entzog, Theater-


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[0480] Gesandte nach Paris, kehrt den 5, März zurück; an demselben Tage erklärt Marschall Vaillnnt dem Gouverneur von Mailand, die französischen Truppen würden sofort die Lombardei verlassen, wenn Toskana einverleibt würde. Im englischen Parlament donnert der Adel gegen die Uebergriffe des Bonapartismus, das Vorspiel zu einer Eroberung Belgiens und der Rhein- lande: Manners 2. März, Fitzgerald 5. März, Ellenborough 6. März. Russell spricht stets einige mehr oder minder passende Worte; Palmerston schweigt wie Herr von Schleinitz; der Quäker Bright dagegen ruft regelmäßig, zum Aerger des Adels, mit kaufmännischer Behaglichkeit: ihr werdet doch nicht Geld dafür ausgeben wollen, was für Fahnen man aus dem Montblanc aufpflanzt! — Die Times, moralisch sehr über Napoleon entrüstet, steckt im V.oraus jeden Minister, der so eine Idee haben sollte, ins Irrenhaus, das Parlament verwirft das im Sinn des Adels gehaltene Amendement Horsman mit 232 : 56 Stim¬ men, und votirt die Dankadresse für den Handelsvertrag, d. h. für das fran¬ zösische Bündniß. Welches ist nun das „Sprichwort", das dieser Conwdie zu Grunde liegt? — Welcher von den Betheiligten lügt am dreistesten? Wer wird am riesen¬ haftesten belogen? Und wer soll die Kosten tragen? Vielleicht geben die nächsten Tage Antwort — auf alle Fülle aber: es ist eine tolle Welt, in der wir leben; und es ist nichts so unglaublich, als was 1' 1- wirtlich ist. Ästhetische Streisziige. , ' 4. Trotz der großen und wahrhaft schöpferischen Kräfte, die unsere Literatur seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts entwickelt, trotz ihres angestrengten Kampfes gegen den Einfluß des Auslandes, durch welchen früher alle Ursprüng- lichkeit erstickt wurde, hat sie sich demselben nicht ganz entziehen können, und es ist namentlich die leichtere populäre Literatur der Engländer und Franzo¬ sen, die unsern einheimischen Erzengnissen Concurrenz macht. Den Nachtheil dieses Einflusses wird Niemand in Abrede stellen können, aber er hat auch seine guten Folgen gehabt. Unsere Poesie hatte selbst in der besten Zeit die Neigung zum Fragmentarischen, und dieses führt, wenn das bloße Talent in die Fuszstapfen des souveränen Genies tritt, nothwendig zum Unkünstlerischen. Psychologische Probleme, deren Lösung der Dichter blos errathen ließ, oder deren Hautgout grade darin bestand, daß sie unlösbar waren, Erzählungen, deren innerer Zusammenhang sich dem natürlichen Verstand entzog, Theater-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/480>, abgerufen am 28.04.2024.