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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Alt- und Neu-Gotha.

Die "sechste Großmacht", die öffentliche Meinung, ist für Weise und
Thoren nicht selten der Gegenstand passender und unpassender Scherze gewor¬
den; und Gelegenheit dazu gibt sie in der That nicht minder als ihre fünf
Schwestern: sie läßt sich ebenso häufig von Stimmungen und Borurtheilen
leiten, Verliert ebenso häusig die Punkte, auf die es ankommt, aus den
Augen, und ist um so mehr zum Wankelmut!) geneigt, da sie nicht von ejner
bestimmten Persönlichkeit, sondern von der vielköpfigen Menge getragen wird.
Weiter aber darf der Spott nicht gehn: denn wie sehr man irrt, die öffentliche
Meinung für ohnmächtig zu halten, lehrt das vergangene Jahr. Zwar hat
sie damals in letzter Instanz ihre Sache verloren, aber die Entscheidung hing
an einem Haar, und wäre es ihr gelungen, den Sieg davon zu tragen, so
hatte Europa eine andere Gestalt: Oestreich stände an der Spitze Deutsch¬
lands und Italiens, und die Reaction stände gegen den Liberalismus unge¬
fähr in demselben Verhältniß wie 1813.

Daß die öffentliche Meinung auf falscher Fährte ging, hatte hauptsäch¬
lich darin seinen Grund, daß sie von den Ereignissen überrascht wurde. Son¬
derbarer Weise kam ihr der italienische Krieg unerwartet, und da sie keine Zeit
hatte, sich die Sache ruhig zu überlegen, bemächtigten sich die Anhänger einer
bestimmten Partei des Worts, und ließen die entgegengesetzte Ansicht nicht
aufkommen. Das Zaudern der preußischen Politik -- mehr dem Jnstinct als
dem Nachdenken entsprungen -- rettete Deutschland von einer großen Ka¬
lamität.

Es wäre aber schlimm, wenn die öffentliche Meinung in der Katastrophe,
die sich vorbereitet, zum zweitenmal in denselben Irrthum versiele. Glück¬
licherweise hat inzwischen die Ueberlegung Raum gehabt, gegen die Vorur¬
theile anzukämpfen, und wir können einem bessern Ausgang entgegensehn.

Bald nach dem Friedensschluß bildete sich der Nationalverein, der von
der Erkenntniß ausging, daß der Schwerpunkt Deutschlands nach Preußen


Grenz" oder III. 1860. 16
Alt- und Neu-Gotha.

Die „sechste Großmacht", die öffentliche Meinung, ist für Weise und
Thoren nicht selten der Gegenstand passender und unpassender Scherze gewor¬
den; und Gelegenheit dazu gibt sie in der That nicht minder als ihre fünf
Schwestern: sie läßt sich ebenso häufig von Stimmungen und Borurtheilen
leiten, Verliert ebenso häusig die Punkte, auf die es ankommt, aus den
Augen, und ist um so mehr zum Wankelmut!) geneigt, da sie nicht von ejner
bestimmten Persönlichkeit, sondern von der vielköpfigen Menge getragen wird.
Weiter aber darf der Spott nicht gehn: denn wie sehr man irrt, die öffentliche
Meinung für ohnmächtig zu halten, lehrt das vergangene Jahr. Zwar hat
sie damals in letzter Instanz ihre Sache verloren, aber die Entscheidung hing
an einem Haar, und wäre es ihr gelungen, den Sieg davon zu tragen, so
hatte Europa eine andere Gestalt: Oestreich stände an der Spitze Deutsch¬
lands und Italiens, und die Reaction stände gegen den Liberalismus unge¬
fähr in demselben Verhältniß wie 1813.

Daß die öffentliche Meinung auf falscher Fährte ging, hatte hauptsäch¬
lich darin seinen Grund, daß sie von den Ereignissen überrascht wurde. Son¬
derbarer Weise kam ihr der italienische Krieg unerwartet, und da sie keine Zeit
hatte, sich die Sache ruhig zu überlegen, bemächtigten sich die Anhänger einer
bestimmten Partei des Worts, und ließen die entgegengesetzte Ansicht nicht
aufkommen. Das Zaudern der preußischen Politik — mehr dem Jnstinct als
dem Nachdenken entsprungen — rettete Deutschland von einer großen Ka¬
lamität.

Es wäre aber schlimm, wenn die öffentliche Meinung in der Katastrophe,
die sich vorbereitet, zum zweitenmal in denselben Irrthum versiele. Glück¬
licherweise hat inzwischen die Ueberlegung Raum gehabt, gegen die Vorur¬
theile anzukämpfen, und wir können einem bessern Ausgang entgegensehn.

Bald nach dem Friedensschluß bildete sich der Nationalverein, der von
der Erkenntniß ausging, daß der Schwerpunkt Deutschlands nach Preußen


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[0133] Alt- und Neu-Gotha. Die „sechste Großmacht", die öffentliche Meinung, ist für Weise und Thoren nicht selten der Gegenstand passender und unpassender Scherze gewor¬ den; und Gelegenheit dazu gibt sie in der That nicht minder als ihre fünf Schwestern: sie läßt sich ebenso häufig von Stimmungen und Borurtheilen leiten, Verliert ebenso häusig die Punkte, auf die es ankommt, aus den Augen, und ist um so mehr zum Wankelmut!) geneigt, da sie nicht von ejner bestimmten Persönlichkeit, sondern von der vielköpfigen Menge getragen wird. Weiter aber darf der Spott nicht gehn: denn wie sehr man irrt, die öffentliche Meinung für ohnmächtig zu halten, lehrt das vergangene Jahr. Zwar hat sie damals in letzter Instanz ihre Sache verloren, aber die Entscheidung hing an einem Haar, und wäre es ihr gelungen, den Sieg davon zu tragen, so hatte Europa eine andere Gestalt: Oestreich stände an der Spitze Deutsch¬ lands und Italiens, und die Reaction stände gegen den Liberalismus unge¬ fähr in demselben Verhältniß wie 1813. Daß die öffentliche Meinung auf falscher Fährte ging, hatte hauptsäch¬ lich darin seinen Grund, daß sie von den Ereignissen überrascht wurde. Son¬ derbarer Weise kam ihr der italienische Krieg unerwartet, und da sie keine Zeit hatte, sich die Sache ruhig zu überlegen, bemächtigten sich die Anhänger einer bestimmten Partei des Worts, und ließen die entgegengesetzte Ansicht nicht aufkommen. Das Zaudern der preußischen Politik — mehr dem Jnstinct als dem Nachdenken entsprungen — rettete Deutschland von einer großen Ka¬ lamität. Es wäre aber schlimm, wenn die öffentliche Meinung in der Katastrophe, die sich vorbereitet, zum zweitenmal in denselben Irrthum versiele. Glück¬ licherweise hat inzwischen die Ueberlegung Raum gehabt, gegen die Vorur¬ theile anzukämpfen, und wir können einem bessern Ausgang entgegensehn. Bald nach dem Friedensschluß bildete sich der Nationalverein, der von der Erkenntniß ausging, daß der Schwerpunkt Deutschlands nach Preußen Grenz» oder III. 1860. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/133>, abgerufen am 01.05.2024.