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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Z. Chr. Günther.

Leben und Dichten Günthers, von O. Roquette. Stuttgardt, Cotta.

Ein mit großer Wärme und Liebe zur Sache geschriebenes Buch, das
nicht wenig dazu beitragen wird, den Dichter, den man im Ganzen mehr
nennt als liest, dem Publikum wieder näher zu bringen.

Seit ihn Goethe einen "echten Dichter im vollsten Sinne des Worts" ge¬
nannt, wurde er in den Literaturgeschickten vielfach gelobt; das Lob steigerte
sich in der jungdeutschen Zeit zur Begeisterung, in der Epoche des sogenann¬
ten Weltschmerzes, wo es als untrügliches Symptom einer echten Dichternatur
galt, wenn man mit sich selbst in Unfrieden und mit der Welt zerfallen war.
Dieser falschen Richtung glaubte Gewinns entgegentreten zu müssen, und fällte
über Günther ein sehr hartes Urtheil. Andere haben sich gegen ihn des
Dichters wieder angenommen und auf Thatsächliches aufmerksam gemacht,
das Gervinus ungenau berichtet hatte. In der neuesten Ausgabe (III. S.
403 ff.) hat er einige Nebenumstände modificirt, in der Hauptsache aber das
alte Urtheil wiederholt. "Mit der neuesten Zeit unserer Poesie hat der Zu¬
stand in Neuknchs und Günthers Tagen die größte Ähnlichkeit. Es steigt
die Form, der Reim, die Sprachgewandheit, die Uebung, alles glänzt und
gleißt im brillantesten Firniß, aber leider ist meist das Gedicht des Reims
und Rhytmus wegen gemacht" s-- das paßt weder aus Günther noch auf
Ncukirch!^. "und die Schwäche der Gesinnung, der Weltkenntniß, des Charak¬
ters verbirgt sich nur schlecht . . . Der Welt Undank fängt die entarteten
Dichter zu treffe" an. die Dichter zerfallen in sich und entarten auch moralisch,
und aus dieser Zerrüttung schöpfen sie die wenige Leidenschaft, was dann die
Poesie ersetzen muß, und auch bei den meisten Lesern eben das Glück macht,
was nur die echteste Poesie machen könnte." ^Das paßt wieder nicht auf
Günthers Zeit, die Zeit der Hofpoeten und Gelegenheitsdichter, die im Welt¬
schmerz und in der Leidenschaft gewiß keine Virtuosen waren.^ -- "Man
kann aus Günthers Gedichten selbst zeigen, daß er mehrfach im dichten Rausch
Verse machte ... Im Liebeswesen hatte er ein weites Gewissen, bekennt sich
gradecius zur flandrischen Liebe u. s. w. ... Auf Rechnung der studentischen


Grenzboten III. 1860. 36
Z. Chr. Günther.

Leben und Dichten Günthers, von O. Roquette. Stuttgardt, Cotta.

Ein mit großer Wärme und Liebe zur Sache geschriebenes Buch, das
nicht wenig dazu beitragen wird, den Dichter, den man im Ganzen mehr
nennt als liest, dem Publikum wieder näher zu bringen.

Seit ihn Goethe einen „echten Dichter im vollsten Sinne des Worts" ge¬
nannt, wurde er in den Literaturgeschickten vielfach gelobt; das Lob steigerte
sich in der jungdeutschen Zeit zur Begeisterung, in der Epoche des sogenann¬
ten Weltschmerzes, wo es als untrügliches Symptom einer echten Dichternatur
galt, wenn man mit sich selbst in Unfrieden und mit der Welt zerfallen war.
Dieser falschen Richtung glaubte Gewinns entgegentreten zu müssen, und fällte
über Günther ein sehr hartes Urtheil. Andere haben sich gegen ihn des
Dichters wieder angenommen und auf Thatsächliches aufmerksam gemacht,
das Gervinus ungenau berichtet hatte. In der neuesten Ausgabe (III. S.
403 ff.) hat er einige Nebenumstände modificirt, in der Hauptsache aber das
alte Urtheil wiederholt. „Mit der neuesten Zeit unserer Poesie hat der Zu¬
stand in Neuknchs und Günthers Tagen die größte Ähnlichkeit. Es steigt
die Form, der Reim, die Sprachgewandheit, die Uebung, alles glänzt und
gleißt im brillantesten Firniß, aber leider ist meist das Gedicht des Reims
und Rhytmus wegen gemacht" s— das paßt weder aus Günther noch auf
Ncukirch!^. „und die Schwäche der Gesinnung, der Weltkenntniß, des Charak¬
ters verbirgt sich nur schlecht . . . Der Welt Undank fängt die entarteten
Dichter zu treffe» an. die Dichter zerfallen in sich und entarten auch moralisch,
und aus dieser Zerrüttung schöpfen sie die wenige Leidenschaft, was dann die
Poesie ersetzen muß, und auch bei den meisten Lesern eben das Glück macht,
was nur die echteste Poesie machen könnte." ^Das paßt wieder nicht auf
Günthers Zeit, die Zeit der Hofpoeten und Gelegenheitsdichter, die im Welt¬
schmerz und in der Leidenschaft gewiß keine Virtuosen waren.^ — „Man
kann aus Günthers Gedichten selbst zeigen, daß er mehrfach im dichten Rausch
Verse machte ... Im Liebeswesen hatte er ein weites Gewissen, bekennt sich
gradecius zur flandrischen Liebe u. s. w. ... Auf Rechnung der studentischen


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[0293] Z. Chr. Günther. Leben und Dichten Günthers, von O. Roquette. Stuttgardt, Cotta. Ein mit großer Wärme und Liebe zur Sache geschriebenes Buch, das nicht wenig dazu beitragen wird, den Dichter, den man im Ganzen mehr nennt als liest, dem Publikum wieder näher zu bringen. Seit ihn Goethe einen „echten Dichter im vollsten Sinne des Worts" ge¬ nannt, wurde er in den Literaturgeschickten vielfach gelobt; das Lob steigerte sich in der jungdeutschen Zeit zur Begeisterung, in der Epoche des sogenann¬ ten Weltschmerzes, wo es als untrügliches Symptom einer echten Dichternatur galt, wenn man mit sich selbst in Unfrieden und mit der Welt zerfallen war. Dieser falschen Richtung glaubte Gewinns entgegentreten zu müssen, und fällte über Günther ein sehr hartes Urtheil. Andere haben sich gegen ihn des Dichters wieder angenommen und auf Thatsächliches aufmerksam gemacht, das Gervinus ungenau berichtet hatte. In der neuesten Ausgabe (III. S. 403 ff.) hat er einige Nebenumstände modificirt, in der Hauptsache aber das alte Urtheil wiederholt. „Mit der neuesten Zeit unserer Poesie hat der Zu¬ stand in Neuknchs und Günthers Tagen die größte Ähnlichkeit. Es steigt die Form, der Reim, die Sprachgewandheit, die Uebung, alles glänzt und gleißt im brillantesten Firniß, aber leider ist meist das Gedicht des Reims und Rhytmus wegen gemacht" s— das paßt weder aus Günther noch auf Ncukirch!^. „und die Schwäche der Gesinnung, der Weltkenntniß, des Charak¬ ters verbirgt sich nur schlecht . . . Der Welt Undank fängt die entarteten Dichter zu treffe» an. die Dichter zerfallen in sich und entarten auch moralisch, und aus dieser Zerrüttung schöpfen sie die wenige Leidenschaft, was dann die Poesie ersetzen muß, und auch bei den meisten Lesern eben das Glück macht, was nur die echteste Poesie machen könnte." ^Das paßt wieder nicht auf Günthers Zeit, die Zeit der Hofpoeten und Gelegenheitsdichter, die im Welt¬ schmerz und in der Leidenschaft gewiß keine Virtuosen waren.^ — „Man kann aus Günthers Gedichten selbst zeigen, daß er mehrfach im dichten Rausch Verse machte ... Im Liebeswesen hatte er ein weites Gewissen, bekennt sich gradecius zur flandrischen Liebe u. s. w. ... Auf Rechnung der studentischen Grenzboten III. 1860. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/293>, abgerufen am 01.05.2024.