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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Berliner Briefe.
'liliott'^ki

Das neue Abgeordnetenhaus ist gewählt; die Liste der Gewählten liegt bereits
in ziemlicher Vollständigkeit vor. Wir kennen bis heute etwa 320 Mitglieder des
künftigen Hauses; die 30, welche noch nicht gemeldet find, können den allgemeinen
Charakter der Volksvertretung nicht wesentlich verändern. Der erste Eindruck, den
man aus einem flüchtigen Ueberblick der Liste empfängt, geht dahin, daß das officiöse
Zetergeschrei, als ob bereits das rothe Gespenst wieder auftauchen wolle, völlig
grundlos war. Die Majorität des neuen Hauses ist wieder in den Händen unsrer
alten Freunde aus der Fraction Vincke; trotz aller Fehler, die sie grade unmittel¬
bar vor den Wahlen begangen haben. Das gegenseitige Verhältniß der Parteien
ist allerdings sehr verändert. Erheblich verstärkt erscheint nur die Fraction Wehrend,
welche jetzt als Fortschrittspartei einen sehr stark ins Gewicht fallenden Bestandtheil
des neuen Hauses bilden wird. Unter der Benennung der altlibcralcn Partei dürfen
wir wol die bisherigen Fractionen Vincke und Mathis zusammenfassen; diese Partei
ist allerdings an Zahl etwas geschwächt; was noch schlimmer ist, sie hat ihre nam¬
haftesten Führer verloren. Aber sie ist noch immer die zahlreichste Fraction des
neuen Hauses und namentlich an Zahl bedeutend stärker als die Fortschrittspartei.
Der Unterschied ist nur, daß sie nicht mehr so unbedingt über die Majorität ge¬
bietet, wie im bisherigen Hause, wo, wenn die Fractionen Vincke und Mathis einig
waren, alle andern Parteien zusammengenommen dagegen nicht ins Gewicht fielen.
Das hat jetzt ein Ende, und eine gute Folge davon wird wenigstens die sein, daß
das Ministerium und die ministerielle Fraction jetzt mit etwas mehr Vorsicht operi-
ren müssen. Wichtige Fragen, wie z. B. die Abstimmung über das Stavenhagensche
Amendement, werde" nicht mehr dadurch erledigt werden können, daß ein Minister
einem einflußreichen Abgeordneten etwas ins Ohr zischelt.

Betrachten wir übersichtlich die einzelnen Gruppen, aus denen das neue Haus
bestehen wird. Die schwächste von allen Fractionen wird voraussichtlich die feudale
sein, schwächer noch als selbst die Polen und die Ultramontanen. Vor drei Jahren
glaubte man, die Reaction habe durch die Wahlen einen sehr empfindlichen Schlag
erhalten; diesmal ist er viel empfindlicher. Denn vor drei Jahren waren die Herrn
so eben erst aus der Macht geworfen, sie erschienen unvorbereitet und dcsvrgcmisirt
bei den Wahlen; das Ministerium dagegen war noch in den ersten Flitterwochen
der allgemeinen Popularität; kein Wunder, daß die Junker vollständig geschlagen
wurden. Ganz anders jetzt. Die Reaction hatte selbst laut verkündet, daß sie als
wohiorganisirte und geschlossene Partei auf dem Kampfplatz erscheine; nach allen
Seiten hin war unermüdlich agitirt, "im Namen des dreieinigen Gottes" und im
Namen des Zunftzopfcs. Und was ist das Resultat? Die Partej erscheint noch viel
schwächer, als im letzten Abgeordnetenhaus-; unter den Gewählten finden wir keinen
einzigen politisch bedeutenden Namen. Das Verdammungsurtheil des Landes über
diese verrottete Partei ist gründlich und einstimmig. Wer allen lebendigen Interessen,


Berliner Briefe.
'liliott'^ki

Das neue Abgeordnetenhaus ist gewählt; die Liste der Gewählten liegt bereits
in ziemlicher Vollständigkeit vor. Wir kennen bis heute etwa 320 Mitglieder des
künftigen Hauses; die 30, welche noch nicht gemeldet find, können den allgemeinen
Charakter der Volksvertretung nicht wesentlich verändern. Der erste Eindruck, den
man aus einem flüchtigen Ueberblick der Liste empfängt, geht dahin, daß das officiöse
Zetergeschrei, als ob bereits das rothe Gespenst wieder auftauchen wolle, völlig
grundlos war. Die Majorität des neuen Hauses ist wieder in den Händen unsrer
alten Freunde aus der Fraction Vincke; trotz aller Fehler, die sie grade unmittel¬
bar vor den Wahlen begangen haben. Das gegenseitige Verhältniß der Parteien
ist allerdings sehr verändert. Erheblich verstärkt erscheint nur die Fraction Wehrend,
welche jetzt als Fortschrittspartei einen sehr stark ins Gewicht fallenden Bestandtheil
des neuen Hauses bilden wird. Unter der Benennung der altlibcralcn Partei dürfen
wir wol die bisherigen Fractionen Vincke und Mathis zusammenfassen; diese Partei
ist allerdings an Zahl etwas geschwächt; was noch schlimmer ist, sie hat ihre nam¬
haftesten Führer verloren. Aber sie ist noch immer die zahlreichste Fraction des
neuen Hauses und namentlich an Zahl bedeutend stärker als die Fortschrittspartei.
Der Unterschied ist nur, daß sie nicht mehr so unbedingt über die Majorität ge¬
bietet, wie im bisherigen Hause, wo, wenn die Fractionen Vincke und Mathis einig
waren, alle andern Parteien zusammengenommen dagegen nicht ins Gewicht fielen.
Das hat jetzt ein Ende, und eine gute Folge davon wird wenigstens die sein, daß
das Ministerium und die ministerielle Fraction jetzt mit etwas mehr Vorsicht operi-
ren müssen. Wichtige Fragen, wie z. B. die Abstimmung über das Stavenhagensche
Amendement, werde» nicht mehr dadurch erledigt werden können, daß ein Minister
einem einflußreichen Abgeordneten etwas ins Ohr zischelt.

Betrachten wir übersichtlich die einzelnen Gruppen, aus denen das neue Haus
bestehen wird. Die schwächste von allen Fractionen wird voraussichtlich die feudale
sein, schwächer noch als selbst die Polen und die Ultramontanen. Vor drei Jahren
glaubte man, die Reaction habe durch die Wahlen einen sehr empfindlichen Schlag
erhalten; diesmal ist er viel empfindlicher. Denn vor drei Jahren waren die Herrn
so eben erst aus der Macht geworfen, sie erschienen unvorbereitet und dcsvrgcmisirt
bei den Wahlen; das Ministerium dagegen war noch in den ersten Flitterwochen
der allgemeinen Popularität; kein Wunder, daß die Junker vollständig geschlagen
wurden. Ganz anders jetzt. Die Reaction hatte selbst laut verkündet, daß sie als
wohiorganisirte und geschlossene Partei auf dem Kampfplatz erscheine; nach allen
Seiten hin war unermüdlich agitirt, „im Namen des dreieinigen Gottes" und im
Namen des Zunftzopfcs. Und was ist das Resultat? Die Partej erscheint noch viel
schwächer, als im letzten Abgeordnetenhaus-; unter den Gewählten finden wir keinen
einzigen politisch bedeutenden Namen. Das Verdammungsurtheil des Landes über
diese verrottete Partei ist gründlich und einstimmig. Wer allen lebendigen Interessen,


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[0480] Berliner Briefe. 'liliott'^ki Das neue Abgeordnetenhaus ist gewählt; die Liste der Gewählten liegt bereits in ziemlicher Vollständigkeit vor. Wir kennen bis heute etwa 320 Mitglieder des künftigen Hauses; die 30, welche noch nicht gemeldet find, können den allgemeinen Charakter der Volksvertretung nicht wesentlich verändern. Der erste Eindruck, den man aus einem flüchtigen Ueberblick der Liste empfängt, geht dahin, daß das officiöse Zetergeschrei, als ob bereits das rothe Gespenst wieder auftauchen wolle, völlig grundlos war. Die Majorität des neuen Hauses ist wieder in den Händen unsrer alten Freunde aus der Fraction Vincke; trotz aller Fehler, die sie grade unmittel¬ bar vor den Wahlen begangen haben. Das gegenseitige Verhältniß der Parteien ist allerdings sehr verändert. Erheblich verstärkt erscheint nur die Fraction Wehrend, welche jetzt als Fortschrittspartei einen sehr stark ins Gewicht fallenden Bestandtheil des neuen Hauses bilden wird. Unter der Benennung der altlibcralcn Partei dürfen wir wol die bisherigen Fractionen Vincke und Mathis zusammenfassen; diese Partei ist allerdings an Zahl etwas geschwächt; was noch schlimmer ist, sie hat ihre nam¬ haftesten Führer verloren. Aber sie ist noch immer die zahlreichste Fraction des neuen Hauses und namentlich an Zahl bedeutend stärker als die Fortschrittspartei. Der Unterschied ist nur, daß sie nicht mehr so unbedingt über die Majorität ge¬ bietet, wie im bisherigen Hause, wo, wenn die Fractionen Vincke und Mathis einig waren, alle andern Parteien zusammengenommen dagegen nicht ins Gewicht fielen. Das hat jetzt ein Ende, und eine gute Folge davon wird wenigstens die sein, daß das Ministerium und die ministerielle Fraction jetzt mit etwas mehr Vorsicht operi- ren müssen. Wichtige Fragen, wie z. B. die Abstimmung über das Stavenhagensche Amendement, werde» nicht mehr dadurch erledigt werden können, daß ein Minister einem einflußreichen Abgeordneten etwas ins Ohr zischelt. Betrachten wir übersichtlich die einzelnen Gruppen, aus denen das neue Haus bestehen wird. Die schwächste von allen Fractionen wird voraussichtlich die feudale sein, schwächer noch als selbst die Polen und die Ultramontanen. Vor drei Jahren glaubte man, die Reaction habe durch die Wahlen einen sehr empfindlichen Schlag erhalten; diesmal ist er viel empfindlicher. Denn vor drei Jahren waren die Herrn so eben erst aus der Macht geworfen, sie erschienen unvorbereitet und dcsvrgcmisirt bei den Wahlen; das Ministerium dagegen war noch in den ersten Flitterwochen der allgemeinen Popularität; kein Wunder, daß die Junker vollständig geschlagen wurden. Ganz anders jetzt. Die Reaction hatte selbst laut verkündet, daß sie als wohiorganisirte und geschlossene Partei auf dem Kampfplatz erscheine; nach allen Seiten hin war unermüdlich agitirt, „im Namen des dreieinigen Gottes" und im Namen des Zunftzopfcs. Und was ist das Resultat? Die Partej erscheint noch viel schwächer, als im letzten Abgeordnetenhaus-; unter den Gewählten finden wir keinen einzigen politisch bedeutenden Namen. Das Verdammungsurtheil des Landes über diese verrottete Partei ist gründlich und einstimmig. Wer allen lebendigen Interessen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/480>, abgerufen am 26.04.2024.