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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Berliner Brief.

Die Thätigkeit des Abgeordnetenhauses ist diesmal damit eröffnet wor¬
den, daß die Fraction Grabow bei der Präsidentenwahl eine kleine Nieder¬
lage erlitten hat, und -- wir wolle" das nur gleich hinzufügen -- eine wohl¬
verdiente Niederlage. Die Taktik der Fraction bei dieser Gelegenheit war
weder geschickt noch glücklich. Nur darf man den ganzen Vorgang nicht zu
hoch anschlagen und nicht etwa daraus einen Schluß auf die künftige Hal¬
tung der Parteien ziehen wollen. Die Fraction Grabow kann sich in ihrer
neuen Stellung noch nicht sogleich zurecht finden. Sie läßt sich noch zuwei¬
len von der Illusion beherrschen, daß sie die Nachfolgerin und Erbin der
früheren Fraction Vincke sei. Dies aber ist ein Irrthum. Die Fraction
Vincke war gleichbedeutend mit der liberalen Partei im 'Abgeordnetenhause.
Die Fraction Grnbow dagegen ist nur eine der vier Fractionen, in welche
sich die liberale Partei spaltet; nach der Zahl der Mitglieder repräsentirt sie
etwa ein Drittheil der Partei. Dies ist eine Thatsache, nach welcher sie ihr
Verhalten einrichten muß. Gewiß wird eine politische Partei ihre Ueberzeu¬
gungen niemals von der größeren oder geringeren Zahl ihrer Mitglieder ab¬
hängig machen, aber ihre Taktik muß sie davon abhängig machen, wenn sie
überhaupt einen Einfluß haben will. Innerhalb der großen liberalen Majo¬
rität des Hauses enthält die Fraction Grabow die größte Zahl von Mit¬
gliedern; beinahe eben so stark ist die Fortschrittspartei; der Rest vertheilt
sich auf die beiden liberalen Mittelfractionen. Diesem Verhältniß gemäß
stellte die Fortschrittspartei in Uebereinstimmung mit den Mittelfractionen fol¬
gende Candidatenliste. auf: Grabow, Behrend, Bockum-Dolffs. Darnach stellte
die Rechte den Präsidenten, die Linke den ersten Vicepräsidenten, das Centrum
den zweiten Vicepräsidenten. Dagegen trat die Fraction Grabow mit fol¬
gender Gegenliste hervor: Grabow, Bürgers. Harkort. Nach diesem Vor¬
schlag wollte die Fraction Grabow aus ihrer eigenen Mitte außer dem Prä¬
sidenten noch den ersten Vicepräsidenten stellen und nur den zweiten Vizeprä¬
sidenten den Mittelfractionen überlassen; die Fortschrittspartei aber sollte ganz
leer ausgehen. Dies war unbillig. Eben so war es ungeschickt, daß die
Fraction Grabow nicht allein rhre eigenen Candidaten, sondern auch die der
anderen Fractionen bestimmen wollte. Dem Centrum wollte sie Hartort, aber
nicht Bockum-Dolffs zugestehen. Der Fortschrittspartei wollte sie auch allen¬
falls einen Viceprüstdenten bewilligen, aber nicht den von dieser aufgestellten
Behrend. sondern etwa Rönne aus Solingen. Die Ursache hierfür will man
in einer zu weit gehenden "Rücksichtsnahme" der Fraction Grabow finden.
So kam es, daß man sich nur über den Präsidenten, nicht über die beiden


30"
Berliner Brief.

Die Thätigkeit des Abgeordnetenhauses ist diesmal damit eröffnet wor¬
den, daß die Fraction Grabow bei der Präsidentenwahl eine kleine Nieder¬
lage erlitten hat, und — wir wolle» das nur gleich hinzufügen — eine wohl¬
verdiente Niederlage. Die Taktik der Fraction bei dieser Gelegenheit war
weder geschickt noch glücklich. Nur darf man den ganzen Vorgang nicht zu
hoch anschlagen und nicht etwa daraus einen Schluß auf die künftige Hal¬
tung der Parteien ziehen wollen. Die Fraction Grabow kann sich in ihrer
neuen Stellung noch nicht sogleich zurecht finden. Sie läßt sich noch zuwei¬
len von der Illusion beherrschen, daß sie die Nachfolgerin und Erbin der
früheren Fraction Vincke sei. Dies aber ist ein Irrthum. Die Fraction
Vincke war gleichbedeutend mit der liberalen Partei im 'Abgeordnetenhause.
Die Fraction Grnbow dagegen ist nur eine der vier Fractionen, in welche
sich die liberale Partei spaltet; nach der Zahl der Mitglieder repräsentirt sie
etwa ein Drittheil der Partei. Dies ist eine Thatsache, nach welcher sie ihr
Verhalten einrichten muß. Gewiß wird eine politische Partei ihre Ueberzeu¬
gungen niemals von der größeren oder geringeren Zahl ihrer Mitglieder ab¬
hängig machen, aber ihre Taktik muß sie davon abhängig machen, wenn sie
überhaupt einen Einfluß haben will. Innerhalb der großen liberalen Majo¬
rität des Hauses enthält die Fraction Grabow die größte Zahl von Mit¬
gliedern; beinahe eben so stark ist die Fortschrittspartei; der Rest vertheilt
sich auf die beiden liberalen Mittelfractionen. Diesem Verhältniß gemäß
stellte die Fortschrittspartei in Uebereinstimmung mit den Mittelfractionen fol¬
gende Candidatenliste. auf: Grabow, Behrend, Bockum-Dolffs. Darnach stellte
die Rechte den Präsidenten, die Linke den ersten Vicepräsidenten, das Centrum
den zweiten Vicepräsidenten. Dagegen trat die Fraction Grabow mit fol¬
gender Gegenliste hervor: Grabow, Bürgers. Harkort. Nach diesem Vor¬
schlag wollte die Fraction Grabow aus ihrer eigenen Mitte außer dem Prä¬
sidenten noch den ersten Vicepräsidenten stellen und nur den zweiten Vizeprä¬
sidenten den Mittelfractionen überlassen; die Fortschrittspartei aber sollte ganz
leer ausgehen. Dies war unbillig. Eben so war es ungeschickt, daß die
Fraction Grabow nicht allein rhre eigenen Candidaten, sondern auch die der
anderen Fractionen bestimmen wollte. Dem Centrum wollte sie Hartort, aber
nicht Bockum-Dolffs zugestehen. Der Fortschrittspartei wollte sie auch allen¬
falls einen Viceprüstdenten bewilligen, aber nicht den von dieser aufgestellten
Behrend. sondern etwa Rönne aus Solingen. Die Ursache hierfür will man
in einer zu weit gehenden „Rücksichtsnahme" der Fraction Grabow finden.
So kam es, daß man sich nur über den Präsidenten, nicht über die beiden


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[0243] Berliner Brief. Die Thätigkeit des Abgeordnetenhauses ist diesmal damit eröffnet wor¬ den, daß die Fraction Grabow bei der Präsidentenwahl eine kleine Nieder¬ lage erlitten hat, und — wir wolle» das nur gleich hinzufügen — eine wohl¬ verdiente Niederlage. Die Taktik der Fraction bei dieser Gelegenheit war weder geschickt noch glücklich. Nur darf man den ganzen Vorgang nicht zu hoch anschlagen und nicht etwa daraus einen Schluß auf die künftige Hal¬ tung der Parteien ziehen wollen. Die Fraction Grabow kann sich in ihrer neuen Stellung noch nicht sogleich zurecht finden. Sie läßt sich noch zuwei¬ len von der Illusion beherrschen, daß sie die Nachfolgerin und Erbin der früheren Fraction Vincke sei. Dies aber ist ein Irrthum. Die Fraction Vincke war gleichbedeutend mit der liberalen Partei im 'Abgeordnetenhause. Die Fraction Grnbow dagegen ist nur eine der vier Fractionen, in welche sich die liberale Partei spaltet; nach der Zahl der Mitglieder repräsentirt sie etwa ein Drittheil der Partei. Dies ist eine Thatsache, nach welcher sie ihr Verhalten einrichten muß. Gewiß wird eine politische Partei ihre Ueberzeu¬ gungen niemals von der größeren oder geringeren Zahl ihrer Mitglieder ab¬ hängig machen, aber ihre Taktik muß sie davon abhängig machen, wenn sie überhaupt einen Einfluß haben will. Innerhalb der großen liberalen Majo¬ rität des Hauses enthält die Fraction Grabow die größte Zahl von Mit¬ gliedern; beinahe eben so stark ist die Fortschrittspartei; der Rest vertheilt sich auf die beiden liberalen Mittelfractionen. Diesem Verhältniß gemäß stellte die Fortschrittspartei in Uebereinstimmung mit den Mittelfractionen fol¬ gende Candidatenliste. auf: Grabow, Behrend, Bockum-Dolffs. Darnach stellte die Rechte den Präsidenten, die Linke den ersten Vicepräsidenten, das Centrum den zweiten Vicepräsidenten. Dagegen trat die Fraction Grabow mit fol¬ gender Gegenliste hervor: Grabow, Bürgers. Harkort. Nach diesem Vor¬ schlag wollte die Fraction Grabow aus ihrer eigenen Mitte außer dem Prä¬ sidenten noch den ersten Vicepräsidenten stellen und nur den zweiten Vizeprä¬ sidenten den Mittelfractionen überlassen; die Fortschrittspartei aber sollte ganz leer ausgehen. Dies war unbillig. Eben so war es ungeschickt, daß die Fraction Grabow nicht allein rhre eigenen Candidaten, sondern auch die der anderen Fractionen bestimmen wollte. Dem Centrum wollte sie Hartort, aber nicht Bockum-Dolffs zugestehen. Der Fortschrittspartei wollte sie auch allen¬ falls einen Viceprüstdenten bewilligen, aber nicht den von dieser aufgestellten Behrend. sondern etwa Rönne aus Solingen. Die Ursache hierfür will man in einer zu weit gehenden „Rücksichtsnahme" der Fraction Grabow finden. So kam es, daß man sich nur über den Präsidenten, nicht über die beiden 30"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/243>, abgerufen am 28.04.2024.