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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Vicepräsidenten einigen konnte. Die einstimmige Wahl Grabow's zum Prä¬
sidenten beweist, daß das Haus in der konstitutionellen Gesinnung einig ist;
die 19 unbeschriebenen Stimmzettel der Reaction beweisen nur den ohnmäch¬
tigen Zorn dieser Partei. Bei der Wahl der beiden Vicepräsidenten gaben
die Stimmen der katholischen Fraction den Ausschlag für die Kandidaten der
Linken. Die Anhänger des Herrn Reichensperger rächten sich so an der Frac-
tion Grabom, weil diese ihnen nicht einen Vicepräsidenten aus der katho¬
lischen Fraction hatte bewilligen wollen. Nach dieser Seite hin hat die Frak¬
tion Grabow eine sehr anerkennenswerthe Festigkeit bewiesen; nach der
anderen Seite hin wird sie aus dem Vorgang vielleicht eine nützliche Lehre
ziehen. Sie wird sich sagen müssen, daß es nicht blos nach links, sondern
auch nach rechts hin eine schiefe Ebene gibt, und daß es nicht minder ge¬
fährlich ist, auf der letzteren ins Rutschen zu gerathen, als auf der ersteren.

Für die Zukunft entscheidend ist dieser Vorgang hoffentlich nicht. Es
wäre sehr zu beklagen, wenn die Trennung zwischen der Fraction Grabow
und der liberalen Mittelfraction sich zu einer bleibenden Kluft erweitern sollte.
Aus diesem Grunde ist es auch gut. daß die Adreßdebatte unterbleibt. Die
Folge derselben hätte nur eine noch stärkere Spaltung und Zerklüftung der
Parteien sein können. Doch wird das Ausfallen der Adresse nicht die Folge
haben, daß die principielle" Fragen der deutschen und der inneren Politik
überhaupt nicht zur Erörterung kommen. Nur die Form der Adresse und der
jetzige Zeitpunkt schienen für eine solche Erörterung nicht geeignet. Später
wird das Haus gewiß nicht unterlassen, sich in besonderen Resolutionen so¬
wohl über die deutsche Frage, als auch über die kurhessische und schleswig¬
holsteinische c> uszusprechen.

Vorläufig hat die Regierung reichlich dafür gesorgt, daß es in beiden
Häusern nicht an Beschäftigung fehle. Die Vorlagen, welche im Lauf der
letzten Woche eingebracht sind, sind so umfassend, daß wir uns für heute auf
eine kurze orientirende Uebersicht beschränken müssen. Auf das Einzelne zu¬
rückzukommen, wird sich später noch oft Veranlassung finden.

Von den Vorlagen, die dem Herrenhaus gemacht sind, erwähnen wir
nur kurz den Gesetzentwurf, betreffend die Aufhebung des Lehnsverbandes
in Vor- und Hinterpommern; es wird damit eine den Realcredit und die
Landescultnr in der Provinz wesentlich fördernde Reform beabsichtigt. Wich¬
tiger ist der Gesetzentwurf wegen der Verantwortlichkeit der Minister. Wir
erinnern uns, wie sehr dieser Entwurf eine schwere Geburt war. Ein Paar
Tage schien es. als werde das Ministerium an den Geburtswehen sterben.
Dem Kind, welches nun. endlich zur Welt gekommen ist. können wir kein
Wachsthum und Gedeihen prognosticiren. Es ist von Anfang an so ver-
rüppelt. daß es vielleicht dem Herrenhaus gefallen wird, dem Abgeordneten-


Vicepräsidenten einigen konnte. Die einstimmige Wahl Grabow's zum Prä¬
sidenten beweist, daß das Haus in der konstitutionellen Gesinnung einig ist;
die 19 unbeschriebenen Stimmzettel der Reaction beweisen nur den ohnmäch¬
tigen Zorn dieser Partei. Bei der Wahl der beiden Vicepräsidenten gaben
die Stimmen der katholischen Fraction den Ausschlag für die Kandidaten der
Linken. Die Anhänger des Herrn Reichensperger rächten sich so an der Frac-
tion Grabom, weil diese ihnen nicht einen Vicepräsidenten aus der katho¬
lischen Fraction hatte bewilligen wollen. Nach dieser Seite hin hat die Frak¬
tion Grabow eine sehr anerkennenswerthe Festigkeit bewiesen; nach der
anderen Seite hin wird sie aus dem Vorgang vielleicht eine nützliche Lehre
ziehen. Sie wird sich sagen müssen, daß es nicht blos nach links, sondern
auch nach rechts hin eine schiefe Ebene gibt, und daß es nicht minder ge¬
fährlich ist, auf der letzteren ins Rutschen zu gerathen, als auf der ersteren.

Für die Zukunft entscheidend ist dieser Vorgang hoffentlich nicht. Es
wäre sehr zu beklagen, wenn die Trennung zwischen der Fraction Grabow
und der liberalen Mittelfraction sich zu einer bleibenden Kluft erweitern sollte.
Aus diesem Grunde ist es auch gut. daß die Adreßdebatte unterbleibt. Die
Folge derselben hätte nur eine noch stärkere Spaltung und Zerklüftung der
Parteien sein können. Doch wird das Ausfallen der Adresse nicht die Folge
haben, daß die principielle» Fragen der deutschen und der inneren Politik
überhaupt nicht zur Erörterung kommen. Nur die Form der Adresse und der
jetzige Zeitpunkt schienen für eine solche Erörterung nicht geeignet. Später
wird das Haus gewiß nicht unterlassen, sich in besonderen Resolutionen so¬
wohl über die deutsche Frage, als auch über die kurhessische und schleswig¬
holsteinische c> uszusprechen.

Vorläufig hat die Regierung reichlich dafür gesorgt, daß es in beiden
Häusern nicht an Beschäftigung fehle. Die Vorlagen, welche im Lauf der
letzten Woche eingebracht sind, sind so umfassend, daß wir uns für heute auf
eine kurze orientirende Uebersicht beschränken müssen. Auf das Einzelne zu¬
rückzukommen, wird sich später noch oft Veranlassung finden.

Von den Vorlagen, die dem Herrenhaus gemacht sind, erwähnen wir
nur kurz den Gesetzentwurf, betreffend die Aufhebung des Lehnsverbandes
in Vor- und Hinterpommern; es wird damit eine den Realcredit und die
Landescultnr in der Provinz wesentlich fördernde Reform beabsichtigt. Wich¬
tiger ist der Gesetzentwurf wegen der Verantwortlichkeit der Minister. Wir
erinnern uns, wie sehr dieser Entwurf eine schwere Geburt war. Ein Paar
Tage schien es. als werde das Ministerium an den Geburtswehen sterben.
Dem Kind, welches nun. endlich zur Welt gekommen ist. können wir kein
Wachsthum und Gedeihen prognosticiren. Es ist von Anfang an so ver-
rüppelt. daß es vielleicht dem Herrenhaus gefallen wird, dem Abgeordneten-


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[0244] Vicepräsidenten einigen konnte. Die einstimmige Wahl Grabow's zum Prä¬ sidenten beweist, daß das Haus in der konstitutionellen Gesinnung einig ist; die 19 unbeschriebenen Stimmzettel der Reaction beweisen nur den ohnmäch¬ tigen Zorn dieser Partei. Bei der Wahl der beiden Vicepräsidenten gaben die Stimmen der katholischen Fraction den Ausschlag für die Kandidaten der Linken. Die Anhänger des Herrn Reichensperger rächten sich so an der Frac- tion Grabom, weil diese ihnen nicht einen Vicepräsidenten aus der katho¬ lischen Fraction hatte bewilligen wollen. Nach dieser Seite hin hat die Frak¬ tion Grabow eine sehr anerkennenswerthe Festigkeit bewiesen; nach der anderen Seite hin wird sie aus dem Vorgang vielleicht eine nützliche Lehre ziehen. Sie wird sich sagen müssen, daß es nicht blos nach links, sondern auch nach rechts hin eine schiefe Ebene gibt, und daß es nicht minder ge¬ fährlich ist, auf der letzteren ins Rutschen zu gerathen, als auf der ersteren. Für die Zukunft entscheidend ist dieser Vorgang hoffentlich nicht. Es wäre sehr zu beklagen, wenn die Trennung zwischen der Fraction Grabow und der liberalen Mittelfraction sich zu einer bleibenden Kluft erweitern sollte. Aus diesem Grunde ist es auch gut. daß die Adreßdebatte unterbleibt. Die Folge derselben hätte nur eine noch stärkere Spaltung und Zerklüftung der Parteien sein können. Doch wird das Ausfallen der Adresse nicht die Folge haben, daß die principielle» Fragen der deutschen und der inneren Politik überhaupt nicht zur Erörterung kommen. Nur die Form der Adresse und der jetzige Zeitpunkt schienen für eine solche Erörterung nicht geeignet. Später wird das Haus gewiß nicht unterlassen, sich in besonderen Resolutionen so¬ wohl über die deutsche Frage, als auch über die kurhessische und schleswig¬ holsteinische c> uszusprechen. Vorläufig hat die Regierung reichlich dafür gesorgt, daß es in beiden Häusern nicht an Beschäftigung fehle. Die Vorlagen, welche im Lauf der letzten Woche eingebracht sind, sind so umfassend, daß wir uns für heute auf eine kurze orientirende Uebersicht beschränken müssen. Auf das Einzelne zu¬ rückzukommen, wird sich später noch oft Veranlassung finden. Von den Vorlagen, die dem Herrenhaus gemacht sind, erwähnen wir nur kurz den Gesetzentwurf, betreffend die Aufhebung des Lehnsverbandes in Vor- und Hinterpommern; es wird damit eine den Realcredit und die Landescultnr in der Provinz wesentlich fördernde Reform beabsichtigt. Wich¬ tiger ist der Gesetzentwurf wegen der Verantwortlichkeit der Minister. Wir erinnern uns, wie sehr dieser Entwurf eine schwere Geburt war. Ein Paar Tage schien es. als werde das Ministerium an den Geburtswehen sterben. Dem Kind, welches nun. endlich zur Welt gekommen ist. können wir kein Wachsthum und Gedeihen prognosticiren. Es ist von Anfang an so ver- rüppelt. daß es vielleicht dem Herrenhaus gefallen wird, dem Abgeordneten-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/244>, abgerufen am 13.05.2024.