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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Die Nibelungen.
Ein deutsches Trauerspiel von Friedrich Hebbel. Hamburg.

Als Friedrich Hebbel vor Jahren mit der Kritik in ärgerlichem Hader lag,
wies er jeden Tadel über die oft gar seltsame Wahl seiner Stoffe mit dem
Worte zurück, das einmal lebendig Gewordene lasse sich nicht wieder zurück¬
verdauen. Dieser kecke Ausspruch blieb ein Zirkelschluß, so lange der Dichter
sich in theoretischen Experimenten gefiel, die nur unlebendige Ergebnisse wie
jene wunderliche Erfindung der Tragikomödie bringen konnten. Im vollen
Maße aber kommt die tiefe Wahrheit, welche in jenem Worte liegt, zur Gel¬
tung und dem Dichter selbst zu Gute, seit er in den letzten zehn Jahren uns
wieder Werke geschenkt hat, denen die Nothwendigkeit ihrer Entstehung auf der
Stirn geschrieben steht. Zumal von diesem jüngsten und schönsten Gedichte
Hebbels wird jeder Leser empfinden, auch wenn das poetische Vorwort es nicht
ausdrücklich sagte, daß es mit dem Herzblute des Dichters geschrieben ist.
Wenn wir also fragen, inwiefern der gewaltige Stoff für das moderne Drama
sich eigne, so kommt es uns nicht in den Sinn, mit dem Künstler wegen der
Wahl seines Stoffs zu rechten, die für ihn wahrlich keine Wahl gewesen ist.
Umgehen aber läßt sich die Frage nicht, schon um der Gerechtigkeit willen.
Denn wenn ein Werk, das in einzelnen Scenen den edelsten Schöpfungen unse¬
rer dramatischen Dichtung gleichkommt, trotzdem nur einen sehr gemischten Ein¬
druck hinterläßt, so liegt die Schuld nur zum geringen Theile an dem Künst¬
ler, zumeist vielmehr an dem Stoffe, oder richtiger, an der Stimmung, welche
moderne Menschen dieser Fabel entgegenbringen.

Wenn der gebildete Durchschnittsmensch heute schon beim Anblick des Ti¬
tels einer Nibelungentragödie mit der Ruhe des Weisen zu sagen liebt: das
sind alte Geschichten, der Himmel bewahre uns vor dieser tausendjährigen
Hexerei -- so können wir nicht bestimmt genug die Ueberzeugung aussprechen:
nur wenige moderne Dichter haben die gewaltige Versuchung nicht empfunden,
die Gestalten des Nibelungenliedes irgendwie nachzubilden. Da steht sie vor
uns, eine jener grandiosen Fabeln, woran die Kunst und der Glaube von Jahr¬
hunderten gearbeitet, das Wunderwerk eines ganzen Volkes, in ihren Grund¬
zügen hoch erhaben über jeder Anfechtung der Kritik. Und mit dem vollen
Reize der Jugend tritt das altehrwürdige Werk vor unsre Augen. Seit zwei
Menschenaltern erst hat sich die Liebe unsres Volkes wieder der alten Dichtung
zugewendet, und seitdem sind die Gestalten des hörnernen Siegfried und der


Die Nibelungen.
Ein deutsches Trauerspiel von Friedrich Hebbel. Hamburg.

Als Friedrich Hebbel vor Jahren mit der Kritik in ärgerlichem Hader lag,
wies er jeden Tadel über die oft gar seltsame Wahl seiner Stoffe mit dem
Worte zurück, das einmal lebendig Gewordene lasse sich nicht wieder zurück¬
verdauen. Dieser kecke Ausspruch blieb ein Zirkelschluß, so lange der Dichter
sich in theoretischen Experimenten gefiel, die nur unlebendige Ergebnisse wie
jene wunderliche Erfindung der Tragikomödie bringen konnten. Im vollen
Maße aber kommt die tiefe Wahrheit, welche in jenem Worte liegt, zur Gel¬
tung und dem Dichter selbst zu Gute, seit er in den letzten zehn Jahren uns
wieder Werke geschenkt hat, denen die Nothwendigkeit ihrer Entstehung auf der
Stirn geschrieben steht. Zumal von diesem jüngsten und schönsten Gedichte
Hebbels wird jeder Leser empfinden, auch wenn das poetische Vorwort es nicht
ausdrücklich sagte, daß es mit dem Herzblute des Dichters geschrieben ist.
Wenn wir also fragen, inwiefern der gewaltige Stoff für das moderne Drama
sich eigne, so kommt es uns nicht in den Sinn, mit dem Künstler wegen der
Wahl seines Stoffs zu rechten, die für ihn wahrlich keine Wahl gewesen ist.
Umgehen aber läßt sich die Frage nicht, schon um der Gerechtigkeit willen.
Denn wenn ein Werk, das in einzelnen Scenen den edelsten Schöpfungen unse¬
rer dramatischen Dichtung gleichkommt, trotzdem nur einen sehr gemischten Ein¬
druck hinterläßt, so liegt die Schuld nur zum geringen Theile an dem Künst¬
ler, zumeist vielmehr an dem Stoffe, oder richtiger, an der Stimmung, welche
moderne Menschen dieser Fabel entgegenbringen.

Wenn der gebildete Durchschnittsmensch heute schon beim Anblick des Ti¬
tels einer Nibelungentragödie mit der Ruhe des Weisen zu sagen liebt: das
sind alte Geschichten, der Himmel bewahre uns vor dieser tausendjährigen
Hexerei — so können wir nicht bestimmt genug die Ueberzeugung aussprechen:
nur wenige moderne Dichter haben die gewaltige Versuchung nicht empfunden,
die Gestalten des Nibelungenliedes irgendwie nachzubilden. Da steht sie vor
uns, eine jener grandiosen Fabeln, woran die Kunst und der Glaube von Jahr¬
hunderten gearbeitet, das Wunderwerk eines ganzen Volkes, in ihren Grund¬
zügen hoch erhaben über jeder Anfechtung der Kritik. Und mit dem vollen
Reize der Jugend tritt das altehrwürdige Werk vor unsre Augen. Seit zwei
Menschenaltern erst hat sich die Liebe unsres Volkes wieder der alten Dichtung
zugewendet, und seitdem sind die Gestalten des hörnernen Siegfried und der


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[0180] Die Nibelungen. Ein deutsches Trauerspiel von Friedrich Hebbel. Hamburg. Als Friedrich Hebbel vor Jahren mit der Kritik in ärgerlichem Hader lag, wies er jeden Tadel über die oft gar seltsame Wahl seiner Stoffe mit dem Worte zurück, das einmal lebendig Gewordene lasse sich nicht wieder zurück¬ verdauen. Dieser kecke Ausspruch blieb ein Zirkelschluß, so lange der Dichter sich in theoretischen Experimenten gefiel, die nur unlebendige Ergebnisse wie jene wunderliche Erfindung der Tragikomödie bringen konnten. Im vollen Maße aber kommt die tiefe Wahrheit, welche in jenem Worte liegt, zur Gel¬ tung und dem Dichter selbst zu Gute, seit er in den letzten zehn Jahren uns wieder Werke geschenkt hat, denen die Nothwendigkeit ihrer Entstehung auf der Stirn geschrieben steht. Zumal von diesem jüngsten und schönsten Gedichte Hebbels wird jeder Leser empfinden, auch wenn das poetische Vorwort es nicht ausdrücklich sagte, daß es mit dem Herzblute des Dichters geschrieben ist. Wenn wir also fragen, inwiefern der gewaltige Stoff für das moderne Drama sich eigne, so kommt es uns nicht in den Sinn, mit dem Künstler wegen der Wahl seines Stoffs zu rechten, die für ihn wahrlich keine Wahl gewesen ist. Umgehen aber läßt sich die Frage nicht, schon um der Gerechtigkeit willen. Denn wenn ein Werk, das in einzelnen Scenen den edelsten Schöpfungen unse¬ rer dramatischen Dichtung gleichkommt, trotzdem nur einen sehr gemischten Ein¬ druck hinterläßt, so liegt die Schuld nur zum geringen Theile an dem Künst¬ ler, zumeist vielmehr an dem Stoffe, oder richtiger, an der Stimmung, welche moderne Menschen dieser Fabel entgegenbringen. Wenn der gebildete Durchschnittsmensch heute schon beim Anblick des Ti¬ tels einer Nibelungentragödie mit der Ruhe des Weisen zu sagen liebt: das sind alte Geschichten, der Himmel bewahre uns vor dieser tausendjährigen Hexerei — so können wir nicht bestimmt genug die Ueberzeugung aussprechen: nur wenige moderne Dichter haben die gewaltige Versuchung nicht empfunden, die Gestalten des Nibelungenliedes irgendwie nachzubilden. Da steht sie vor uns, eine jener grandiosen Fabeln, woran die Kunst und der Glaube von Jahr¬ hunderten gearbeitet, das Wunderwerk eines ganzen Volkes, in ihren Grund¬ zügen hoch erhaben über jeder Anfechtung der Kritik. Und mit dem vollen Reize der Jugend tritt das altehrwürdige Werk vor unsre Augen. Seit zwei Menschenaltern erst hat sich die Liebe unsres Volkes wieder der alten Dichtung zugewendet, und seitdem sind die Gestalten des hörnernen Siegfried und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/180>, abgerufen am 29.04.2024.