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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Rächerin Kriemhild einem Jeden eng verwachsen mit jenen ersten Empfindungen
der Kindheit, welche ewig frisch bleiben, als wären sie gestern empfunden.
Und dieser Schatz "gewaltigster menschlicher Leidenschaft, der unsre Maler zu
immer neuen Nachschöpfungen reizt, ist uns überliefert in einer poetischen Be¬
arbeitung, die dem feineren Kunstsinne der Gegenwart nimmermehr völlig ge¬
nügen sann. Denn -- zum Schrecken orthodoxer Germanisten sei gesagt, was
jedes einfache Gefühl sofort empfindet -- neben Stellen von hinreißender Kraft
und Schönheit dehnen sich im Nibelungenliede weite Strecken von langweiliger
Einförmigkeit, auch der Inhalt bietet oftmals eine fremdartige, ja feindselige
Mischung von altnordischen, deutschen, heidnischen und christlichen Elementen, und
die ungeheure Bewegung und leidenschaftliche Wildheit des Stoffs, welchen die
epische Form oft kaum bewältigen kann, fordert den Dramatiker ebenso laut
zum Nachbilden auf wie jene Keime verschlungener eingehender Charakteristik,
die sich im Epos nur halb entfalten können. Gründe genug, um in unzähligen
modernen Menschen den Wunsch zu erregen, daß die Heldengestalten der alten
Sage auf der Bühne erscheinen möchten, wo, nach Hebbels schönem Worte,


Wo sich die bleichen Dichterschatten röthen
Wie des Odysseus Schaar von fremdem Blut.

Aber wie läßt sich diese ungeheure Fabelwelt dem Verständniß unserer Hö¬
rer erschließen? Am nächsten liegt es, durch sorgfältige psychologische Motivi-
rung die alten Recken uns menschlich nahe zu führen. Dieses Wegs ist Ema-
nuel Geibel gegangen -- und der Erfolg bewies, daß auf solche Weise die
finstere Größe des alten Gedichtes gänzlich verloren geht. Wenn jene Brun-
hild, die mit dem ersten Recken der Erde um ihre Jungfernschaft kämpft, sich
mit der Selbsterkenntniß moderner Menschen Rechenschaft gibt über ihre geheim¬
sten Empfindungen, so erscheint sie als eine unmögliche, fast komische Gestalt
-- ganz zu geschweigen jener Weichheit und Anmuth, welche Geibel wider
die Natur in diese rauhe Fabel hineingelegt hat. Wie anders ist Hebbel
verfahren. Ein ungeheures Geheimniß bleibt immerdar über den riesenhaften
Gestalten dieser Sage, das keine Kunst unsrer helleren Zeit lichten kann. Sol¬
len unsre Hörer an einen Hagen Tronje wirklich glauben, so gilt es nicht ihn
hinabzuziehen in unsre Kleinheit und Feinheit, nein, es gilt, ihn noch recken¬
hafter erscheinen zu lassen und die Wunder der alten Göttersagen , die im
Nibelungenliede schon halb verwischt sind, in voller Pracht zu entfalten. Von
vornherein muß der Hörer empfinden, daß er die Welt des hellen bewußten
Verstandes verlassen hat, daß er unter Menschen tritt, die wahllos, zweifellos,
wie die Naturgewalten, das Ungeheure thun und der vollbrachten Unthat hart
und sicher in die Augen sehen und sie auf sich nehmen, wie der Hagen des
Liedes, der bei jedem neuen Frevel sich vordrängt und spricht "laß mich den
Schuldigen sein". Diese Erhöhung der Helden fast über das Maß des alten


Rächerin Kriemhild einem Jeden eng verwachsen mit jenen ersten Empfindungen
der Kindheit, welche ewig frisch bleiben, als wären sie gestern empfunden.
Und dieser Schatz "gewaltigster menschlicher Leidenschaft, der unsre Maler zu
immer neuen Nachschöpfungen reizt, ist uns überliefert in einer poetischen Be¬
arbeitung, die dem feineren Kunstsinne der Gegenwart nimmermehr völlig ge¬
nügen sann. Denn — zum Schrecken orthodoxer Germanisten sei gesagt, was
jedes einfache Gefühl sofort empfindet — neben Stellen von hinreißender Kraft
und Schönheit dehnen sich im Nibelungenliede weite Strecken von langweiliger
Einförmigkeit, auch der Inhalt bietet oftmals eine fremdartige, ja feindselige
Mischung von altnordischen, deutschen, heidnischen und christlichen Elementen, und
die ungeheure Bewegung und leidenschaftliche Wildheit des Stoffs, welchen die
epische Form oft kaum bewältigen kann, fordert den Dramatiker ebenso laut
zum Nachbilden auf wie jene Keime verschlungener eingehender Charakteristik,
die sich im Epos nur halb entfalten können. Gründe genug, um in unzähligen
modernen Menschen den Wunsch zu erregen, daß die Heldengestalten der alten
Sage auf der Bühne erscheinen möchten, wo, nach Hebbels schönem Worte,


Wo sich die bleichen Dichterschatten röthen
Wie des Odysseus Schaar von fremdem Blut.

Aber wie läßt sich diese ungeheure Fabelwelt dem Verständniß unserer Hö¬
rer erschließen? Am nächsten liegt es, durch sorgfältige psychologische Motivi-
rung die alten Recken uns menschlich nahe zu führen. Dieses Wegs ist Ema-
nuel Geibel gegangen — und der Erfolg bewies, daß auf solche Weise die
finstere Größe des alten Gedichtes gänzlich verloren geht. Wenn jene Brun-
hild, die mit dem ersten Recken der Erde um ihre Jungfernschaft kämpft, sich
mit der Selbsterkenntniß moderner Menschen Rechenschaft gibt über ihre geheim¬
sten Empfindungen, so erscheint sie als eine unmögliche, fast komische Gestalt
— ganz zu geschweigen jener Weichheit und Anmuth, welche Geibel wider
die Natur in diese rauhe Fabel hineingelegt hat. Wie anders ist Hebbel
verfahren. Ein ungeheures Geheimniß bleibt immerdar über den riesenhaften
Gestalten dieser Sage, das keine Kunst unsrer helleren Zeit lichten kann. Sol¬
len unsre Hörer an einen Hagen Tronje wirklich glauben, so gilt es nicht ihn
hinabzuziehen in unsre Kleinheit und Feinheit, nein, es gilt, ihn noch recken¬
hafter erscheinen zu lassen und die Wunder der alten Göttersagen , die im
Nibelungenliede schon halb verwischt sind, in voller Pracht zu entfalten. Von
vornherein muß der Hörer empfinden, daß er die Welt des hellen bewußten
Verstandes verlassen hat, daß er unter Menschen tritt, die wahllos, zweifellos,
wie die Naturgewalten, das Ungeheure thun und der vollbrachten Unthat hart
und sicher in die Augen sehen und sie auf sich nehmen, wie der Hagen des
Liedes, der bei jedem neuen Frevel sich vordrängt und spricht „laß mich den
Schuldigen sein". Diese Erhöhung der Helden fast über das Maß des alten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/181>, abgerufen am 16.05.2024.