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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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kommt, nur eine Spielart des Polonismus, denn man hat sich seit lange daran
gewöhnt, einmal die Verhältnisse der Ostseeprovinzen unter denselben Gesichts¬
punkten wie die Polens zu betrachten und zweitens die Russisicirung Polens
als eine slawische Pflicht anzusehen, um dieses Land vor der vorschreitender
Gcrmanisation durch Preußen zu retten.

Occidental-aristokratische oder slawisch-demokratische Entwickelung, Verlegung
des politischen Gewichts in die gebildeten oder in die erst zu bildenden Volks¬
classen -- das sind die Gegensätze, um welche es sich nach russischer Anschauung
handelt und zu deren Verschärfung das Attentat vom 6. Juni nicht wenig bei¬
tragen wird. Ein Ende dieses Kampfes läßt sich zur Zeit nicht absehen, ob
man gleich meinen sollte, alle Mittel zur Ausführung desselben seien bereits
Ws Treffen geführt, alle Pfeile des russischen wie des polnischen Kochers ver.
schössen. Möglich, daß die täglich näher rückende Lösung der orientalischen Frage
auch nach dieser Seite hin einen Ausweg zeigt oder die Gesichtspunkte ändert
^- ihre friedliche Beilegung wird durch jeden Tag, um welchen sich die Zer¬
setzung des türkischen Staatskörpers verlängert, erschwert und wahrscheinlicher,
als alle übrigen aus Paris colportirten Nachrichten, erscheint die Kunde, daß
bezüglich der Zukunft des Orients keinerlei Verständigung zwischen den in der
französischen Hauptstadt versammelten Monarchen erzielt worden sei. Vorerst
dürste diese NichtVerständigung mit der Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes
identisch sein und Nußland zu keiner militärischen Action Veranlassung haben.

So wird der Principicnkampf im Osten seinen ununterbrochenen Fortgang
nehmen und sehr bald von dem Stadium Kunde geben, in welches er zufolge
des Attentats vom 6. Juni getreten ist. Einer allcndlichen Lösung der polni¬
schen Frage wird die der orientalischen aber sicher aus den Fuß folgen.




Ein Jahr ist abgelaufen, seit die Elbherzogthümer durch die Verdrängung
der Oestreicher in den ausschließlichen Besitz Preußens gekommen sind. Wenn
Hessen, Nassauer, Hannoveraner und Sachsen noch lange nach Besetzung ihrer
Länder über ihr Schicksal im Ungewissen bleiben mußten, bei den Schleswig-
Hvlsteinern war kein derartiger Zweifel möglich, zumal nach dem Tage von
Komggrätz. Hier hatte ja die preußische Politik ein seit Jahren mit Bcharr-
nchknt erstrebtes Ziel erreicht; hier standen der vollen Durchführung der Ab


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kommt, nur eine Spielart des Polonismus, denn man hat sich seit lange daran
gewöhnt, einmal die Verhältnisse der Ostseeprovinzen unter denselben Gesichts¬
punkten wie die Polens zu betrachten und zweitens die Russisicirung Polens
als eine slawische Pflicht anzusehen, um dieses Land vor der vorschreitender
Gcrmanisation durch Preußen zu retten.

Occidental-aristokratische oder slawisch-demokratische Entwickelung, Verlegung
des politischen Gewichts in die gebildeten oder in die erst zu bildenden Volks¬
classen — das sind die Gegensätze, um welche es sich nach russischer Anschauung
handelt und zu deren Verschärfung das Attentat vom 6. Juni nicht wenig bei¬
tragen wird. Ein Ende dieses Kampfes läßt sich zur Zeit nicht absehen, ob
man gleich meinen sollte, alle Mittel zur Ausführung desselben seien bereits
Ws Treffen geführt, alle Pfeile des russischen wie des polnischen Kochers ver.
schössen. Möglich, daß die täglich näher rückende Lösung der orientalischen Frage
auch nach dieser Seite hin einen Ausweg zeigt oder die Gesichtspunkte ändert
^- ihre friedliche Beilegung wird durch jeden Tag, um welchen sich die Zer¬
setzung des türkischen Staatskörpers verlängert, erschwert und wahrscheinlicher,
als alle übrigen aus Paris colportirten Nachrichten, erscheint die Kunde, daß
bezüglich der Zukunft des Orients keinerlei Verständigung zwischen den in der
französischen Hauptstadt versammelten Monarchen erzielt worden sei. Vorerst
dürste diese NichtVerständigung mit der Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes
identisch sein und Nußland zu keiner militärischen Action Veranlassung haben.

So wird der Principicnkampf im Osten seinen ununterbrochenen Fortgang
nehmen und sehr bald von dem Stadium Kunde geben, in welches er zufolge
des Attentats vom 6. Juni getreten ist. Einer allcndlichen Lösung der polni¬
schen Frage wird die der orientalischen aber sicher aus den Fuß folgen.




Ein Jahr ist abgelaufen, seit die Elbherzogthümer durch die Verdrängung
der Oestreicher in den ausschließlichen Besitz Preußens gekommen sind. Wenn
Hessen, Nassauer, Hannoveraner und Sachsen noch lange nach Besetzung ihrer
Länder über ihr Schicksal im Ungewissen bleiben mußten, bei den Schleswig-
Hvlsteinern war kein derartiger Zweifel möglich, zumal nach dem Tage von
Komggrätz. Hier hatte ja die preußische Politik ein seit Jahren mit Bcharr-
nchknt erstrebtes Ziel erreicht; hier standen der vollen Durchführung der Ab


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[0483] kommt, nur eine Spielart des Polonismus, denn man hat sich seit lange daran gewöhnt, einmal die Verhältnisse der Ostseeprovinzen unter denselben Gesichts¬ punkten wie die Polens zu betrachten und zweitens die Russisicirung Polens als eine slawische Pflicht anzusehen, um dieses Land vor der vorschreitender Gcrmanisation durch Preußen zu retten. Occidental-aristokratische oder slawisch-demokratische Entwickelung, Verlegung des politischen Gewichts in die gebildeten oder in die erst zu bildenden Volks¬ classen — das sind die Gegensätze, um welche es sich nach russischer Anschauung handelt und zu deren Verschärfung das Attentat vom 6. Juni nicht wenig bei¬ tragen wird. Ein Ende dieses Kampfes läßt sich zur Zeit nicht absehen, ob man gleich meinen sollte, alle Mittel zur Ausführung desselben seien bereits Ws Treffen geführt, alle Pfeile des russischen wie des polnischen Kochers ver. schössen. Möglich, daß die täglich näher rückende Lösung der orientalischen Frage auch nach dieser Seite hin einen Ausweg zeigt oder die Gesichtspunkte ändert ^- ihre friedliche Beilegung wird durch jeden Tag, um welchen sich die Zer¬ setzung des türkischen Staatskörpers verlängert, erschwert und wahrscheinlicher, als alle übrigen aus Paris colportirten Nachrichten, erscheint die Kunde, daß bezüglich der Zukunft des Orients keinerlei Verständigung zwischen den in der französischen Hauptstadt versammelten Monarchen erzielt worden sei. Vorerst dürste diese NichtVerständigung mit der Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes identisch sein und Nußland zu keiner militärischen Action Veranlassung haben. So wird der Principicnkampf im Osten seinen ununterbrochenen Fortgang nehmen und sehr bald von dem Stadium Kunde geben, in welches er zufolge des Attentats vom 6. Juni getreten ist. Einer allcndlichen Lösung der polni¬ schen Frage wird die der orientalischen aber sicher aus den Fuß folgen. Ein Jahr ist abgelaufen, seit die Elbherzogthümer durch die Verdrängung der Oestreicher in den ausschließlichen Besitz Preußens gekommen sind. Wenn Hessen, Nassauer, Hannoveraner und Sachsen noch lange nach Besetzung ihrer Länder über ihr Schicksal im Ungewissen bleiben mußten, bei den Schleswig- Hvlsteinern war kein derartiger Zweifel möglich, zumal nach dem Tage von Komggrätz. Hier hatte ja die preußische Politik ein seit Jahren mit Bcharr- nchknt erstrebtes Ziel erreicht; hier standen der vollen Durchführung der Ab 61*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/483>, abgerufen am 05.05.2024.