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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Die Gewerbeordnung und die ärztliche Praxis.

Voraussichtlich wird die vor Kurzem in Kraft getretene Gewerbeord¬
nung des norddeutschen Bundes für die Interessen eines großen Theils der
Bevölkerung und insbesondere für den Stand der Aerzte einen so mächtigen
Umschwung herbeiführen, daß es von Vortheil sein dürfte, die Folgen der
neuen Einrichtung schon vorläufig ins Auge zu fassen.

Drei Grundsätze sind es namentlich, die seit Jahrhunderten für die
Ausübung der Heilkunde fast in allen civilisirten Staaten festgestellt, durch
die neue Gesetzgebung sehr wesentliche Veränderungen erfahren haben. Die
Ausübung der ärztlichen Praxis ist nach wie vor an den Nachweis der Be¬
fähigung an eine Prüfung geknüpft (§. 29), aber 1) ein Schutz des Staates
vor den üblen Folgen der Medieinalpfuscherei wird durch die Gewerbeord¬
nung nicht geboten; 2) die Strafbarkeit der Verweigerung der ärztlichen
Hilfe ist aufgehoben (§, 144) und 3) die Bezahlung der approbirten Aerzte wird
nur ausnahmsweise und nur für streitige Fälle durch Taxe geregelt (§. 80).
-- Je nach der örtlichen Lage werden die Folgen dieser Neuerungen sehr
verschieden sein. In größeren und großen Städten, wo zahlreiche Special-
ärzte für ihre Thätigkeit eigene Vereinbarungen treffen, wo die einzelne Fa¬
milie in vorkommenden Krankheitsfällen ihren erwählten Hausarzt zu Rathe
zieht und mit diesem meist ein vorheriges Uebereinkommen besteht, wo end¬
lich für die Behandlung der Armen besondere Aerzte sind angestellt und die freie
Concurrenz für die Ausübung der ärztlichen Praxis von dem größten Einfluß ist
wird die neue Auffassung der ärztlichen Stellung vielleicht von keiner weit¬
greifenden Bedeutung sein. Indeß für kleine Städte und insbesondere für
Landbezirke, in denen ausgebreitete Ortschaften oft an einen Arzt gebunden
sind und innerhalb einer dürftigen Bevölkerung der Mangel tüchtiger Aerzte oft
recht fühlbar wird, erscheint die neue gesetzliche Fassung von tiefgreifender
Wirkung. Während die medicinischen Organe den Umschwung in der Stel¬
lung des Arztes durchweg mit Beifall begrüßen, hat es im Publicum nicht
an Stimmen gefehlt, welche anscheinend ernste Bedenken gegen diese Neue¬
rungen erheben.

Man hat die Befürchtung ausgesprochen, daß das Publicum urtheilslos
und schutzlos einem Haufen ungebildeter Pfuscher und Meditaster preisgegeben
sein werde, daß bei plötzlichen Unglücksfällen oder bei Erkrankungen Unbe¬
mittelter und nicht zahlungsfähiger Armer möglicherweise ärztliche Hilfe fehlen
könne. Auch für die Aerzte machte man die Befürchtung geltend, daß deren
Stellung durch die factische Freigebung der Praxis Beeinträchtigungen er¬
leiden werde. Indeß alle diese Bedenken erweisen sich bei näherer Betrach


Die Gewerbeordnung und die ärztliche Praxis.

Voraussichtlich wird die vor Kurzem in Kraft getretene Gewerbeord¬
nung des norddeutschen Bundes für die Interessen eines großen Theils der
Bevölkerung und insbesondere für den Stand der Aerzte einen so mächtigen
Umschwung herbeiführen, daß es von Vortheil sein dürfte, die Folgen der
neuen Einrichtung schon vorläufig ins Auge zu fassen.

Drei Grundsätze sind es namentlich, die seit Jahrhunderten für die
Ausübung der Heilkunde fast in allen civilisirten Staaten festgestellt, durch
die neue Gesetzgebung sehr wesentliche Veränderungen erfahren haben. Die
Ausübung der ärztlichen Praxis ist nach wie vor an den Nachweis der Be¬
fähigung an eine Prüfung geknüpft (§. 29), aber 1) ein Schutz des Staates
vor den üblen Folgen der Medieinalpfuscherei wird durch die Gewerbeord¬
nung nicht geboten; 2) die Strafbarkeit der Verweigerung der ärztlichen
Hilfe ist aufgehoben (§, 144) und 3) die Bezahlung der approbirten Aerzte wird
nur ausnahmsweise und nur für streitige Fälle durch Taxe geregelt (§. 80).
— Je nach der örtlichen Lage werden die Folgen dieser Neuerungen sehr
verschieden sein. In größeren und großen Städten, wo zahlreiche Special-
ärzte für ihre Thätigkeit eigene Vereinbarungen treffen, wo die einzelne Fa¬
milie in vorkommenden Krankheitsfällen ihren erwählten Hausarzt zu Rathe
zieht und mit diesem meist ein vorheriges Uebereinkommen besteht, wo end¬
lich für die Behandlung der Armen besondere Aerzte sind angestellt und die freie
Concurrenz für die Ausübung der ärztlichen Praxis von dem größten Einfluß ist
wird die neue Auffassung der ärztlichen Stellung vielleicht von keiner weit¬
greifenden Bedeutung sein. Indeß für kleine Städte und insbesondere für
Landbezirke, in denen ausgebreitete Ortschaften oft an einen Arzt gebunden
sind und innerhalb einer dürftigen Bevölkerung der Mangel tüchtiger Aerzte oft
recht fühlbar wird, erscheint die neue gesetzliche Fassung von tiefgreifender
Wirkung. Während die medicinischen Organe den Umschwung in der Stel¬
lung des Arztes durchweg mit Beifall begrüßen, hat es im Publicum nicht
an Stimmen gefehlt, welche anscheinend ernste Bedenken gegen diese Neue¬
rungen erheben.

Man hat die Befürchtung ausgesprochen, daß das Publicum urtheilslos
und schutzlos einem Haufen ungebildeter Pfuscher und Meditaster preisgegeben
sein werde, daß bei plötzlichen Unglücksfällen oder bei Erkrankungen Unbe¬
mittelter und nicht zahlungsfähiger Armer möglicherweise ärztliche Hilfe fehlen
könne. Auch für die Aerzte machte man die Befürchtung geltend, daß deren
Stellung durch die factische Freigebung der Praxis Beeinträchtigungen er¬
leiden werde. Indeß alle diese Bedenken erweisen sich bei näherer Betrach


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[0396] Die Gewerbeordnung und die ärztliche Praxis. Voraussichtlich wird die vor Kurzem in Kraft getretene Gewerbeord¬ nung des norddeutschen Bundes für die Interessen eines großen Theils der Bevölkerung und insbesondere für den Stand der Aerzte einen so mächtigen Umschwung herbeiführen, daß es von Vortheil sein dürfte, die Folgen der neuen Einrichtung schon vorläufig ins Auge zu fassen. Drei Grundsätze sind es namentlich, die seit Jahrhunderten für die Ausübung der Heilkunde fast in allen civilisirten Staaten festgestellt, durch die neue Gesetzgebung sehr wesentliche Veränderungen erfahren haben. Die Ausübung der ärztlichen Praxis ist nach wie vor an den Nachweis der Be¬ fähigung an eine Prüfung geknüpft (§. 29), aber 1) ein Schutz des Staates vor den üblen Folgen der Medieinalpfuscherei wird durch die Gewerbeord¬ nung nicht geboten; 2) die Strafbarkeit der Verweigerung der ärztlichen Hilfe ist aufgehoben (§, 144) und 3) die Bezahlung der approbirten Aerzte wird nur ausnahmsweise und nur für streitige Fälle durch Taxe geregelt (§. 80). — Je nach der örtlichen Lage werden die Folgen dieser Neuerungen sehr verschieden sein. In größeren und großen Städten, wo zahlreiche Special- ärzte für ihre Thätigkeit eigene Vereinbarungen treffen, wo die einzelne Fa¬ milie in vorkommenden Krankheitsfällen ihren erwählten Hausarzt zu Rathe zieht und mit diesem meist ein vorheriges Uebereinkommen besteht, wo end¬ lich für die Behandlung der Armen besondere Aerzte sind angestellt und die freie Concurrenz für die Ausübung der ärztlichen Praxis von dem größten Einfluß ist wird die neue Auffassung der ärztlichen Stellung vielleicht von keiner weit¬ greifenden Bedeutung sein. Indeß für kleine Städte und insbesondere für Landbezirke, in denen ausgebreitete Ortschaften oft an einen Arzt gebunden sind und innerhalb einer dürftigen Bevölkerung der Mangel tüchtiger Aerzte oft recht fühlbar wird, erscheint die neue gesetzliche Fassung von tiefgreifender Wirkung. Während die medicinischen Organe den Umschwung in der Stel¬ lung des Arztes durchweg mit Beifall begrüßen, hat es im Publicum nicht an Stimmen gefehlt, welche anscheinend ernste Bedenken gegen diese Neue¬ rungen erheben. Man hat die Befürchtung ausgesprochen, daß das Publicum urtheilslos und schutzlos einem Haufen ungebildeter Pfuscher und Meditaster preisgegeben sein werde, daß bei plötzlichen Unglücksfällen oder bei Erkrankungen Unbe¬ mittelter und nicht zahlungsfähiger Armer möglicherweise ärztliche Hilfe fehlen könne. Auch für die Aerzte machte man die Befürchtung geltend, daß deren Stellung durch die factische Freigebung der Praxis Beeinträchtigungen er¬ leiden werde. Indeß alle diese Bedenken erweisen sich bei näherer Betrach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/396>, abgerufen am 28.04.2024.