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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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zu Hilfe nehmen muß, um den Geburten seines jugendlichen Geistes eine
Art von zweifelhafter Fortdauer zu sichern. Bleibt auch ihr inneres Wesen
unangetastet, so wird doch ihr äußeres Ansehen umgewandelt. Wer würde in
der Rede über die Mythologie, wie sie im fünften Bande der Werke steht,
noch das kühne Manifest der Romantiker erkennen*)!

Möge also der Wunsch nach einer kritischen Herstellung der Werke
Friedrich Schlegel's hier nicht vergebens ausgesprochen sein! Auf allen Ge¬
bieten des literarhistorischen Wissens die Kenntniß und das Studium der un-
verfälschten Quellen zu fördern -- dieser Aufgabe müssen wir vor Allem ge¬
nügen, wenn unsere Literaturgeschichte sich endlich zu der Würde einer strengen
und ernsten Wissenschaft erheben soll.




Französische Zustände und Aussichten.

Prevost-Paradol gilt mit Recht als der geistvollste politische Schriftsteller
des heutigen Frankreich, keine Feder fürchtete der Imperialismus so als die
seinige, man verfolgte den Courrier du Dimanche, in dem erzuerst besonders
schrieb, auss äußerste, unterdrückte ihn zuletzt und brachte es dahin, daß ein
gefälliges Gericht den unbequemen Kritiker zu kurzer Gefängnißstrafe ver-
urtheilte. Er widmete sich darauf ganz dem Journal ach v6batL und die
Academie, für die seine oppositionelle Gesinnung eher eine Empfehlung als
das Gegentheil war, öffnete ihm ihre Thüren als er kaum die Mitte der



') Man sehe hier besonders, wie er dem unbequemen Namen Spinoza aus dem Wege
geht! -- Wer sich von dem ganzen Proceß dieser Umbildung eine genügende Vorstellung ver¬
schaffen will, muß ihn durch alle früheren Arbeiten hindurch verfolgen. Manchmal werden
ganze Seiten eingeschoben; (vgl. die Griechen und Römer S. 257 mit den Werken 4, 94) oft
nur die Worte durch gelinde Modificationen der späteren Sinnesweise des Autors annehmlich
gemacht. Nicht selten gewährt diese Mühsal der Umarbeitung dem vergleichenden Leser einen
komischen Eindruck. In dem Vorworte zum Epitaphios des Lystas, dessen Ueberhebung
Schlegel in Wieland's Attischen Museum veröffentlicht hatte, fand sich der Satz: (1, 216)
"In der Urgeschichte der Menschheit sind sogar einige abergläubische Gebräuche, welche dem
Denker kindisch scheinen müssen, die ersten Zeichen ihrer höhern Bestimmung." -- Dieser
harmlose Satz fand später keine Gnade mehr, und ward in den Werken 4, 167 auf folgende
Weise zurechtgerückt: "In der Urgeschichte der Menschheit sind manche eigenthümliche und
zum Theil sonderbare Todes- und Grabes-Gebräuche, welche dem Vernünftler ohne Zweck und
Bedeutung scheinen, die ersten Zeichen einer höhern Bestimmung." -- Zu welchen Fehlgriffen
ein Literarhistoriker verleitet wird, der den Unterschied zwischen der früheren und späteren Ge¬
stalt der Schlegel'schen Werke nicht kennt oder nicht beachtet, -- das mag man an dem trau¬
rigen Beispiele von Cholevius lernen; vgl. dessen Geschichte der deutschen Poesie nach ihren
antiken Elementen 2, 397.

zu Hilfe nehmen muß, um den Geburten seines jugendlichen Geistes eine
Art von zweifelhafter Fortdauer zu sichern. Bleibt auch ihr inneres Wesen
unangetastet, so wird doch ihr äußeres Ansehen umgewandelt. Wer würde in
der Rede über die Mythologie, wie sie im fünften Bande der Werke steht,
noch das kühne Manifest der Romantiker erkennen*)!

Möge also der Wunsch nach einer kritischen Herstellung der Werke
Friedrich Schlegel's hier nicht vergebens ausgesprochen sein! Auf allen Ge¬
bieten des literarhistorischen Wissens die Kenntniß und das Studium der un-
verfälschten Quellen zu fördern — dieser Aufgabe müssen wir vor Allem ge¬
nügen, wenn unsere Literaturgeschichte sich endlich zu der Würde einer strengen
und ernsten Wissenschaft erheben soll.




Französische Zustände und Aussichten.

Prevost-Paradol gilt mit Recht als der geistvollste politische Schriftsteller
des heutigen Frankreich, keine Feder fürchtete der Imperialismus so als die
seinige, man verfolgte den Courrier du Dimanche, in dem erzuerst besonders
schrieb, auss äußerste, unterdrückte ihn zuletzt und brachte es dahin, daß ein
gefälliges Gericht den unbequemen Kritiker zu kurzer Gefängnißstrafe ver-
urtheilte. Er widmete sich darauf ganz dem Journal ach v6batL und die
Academie, für die seine oppositionelle Gesinnung eher eine Empfehlung als
das Gegentheil war, öffnete ihm ihre Thüren als er kaum die Mitte der



') Man sehe hier besonders, wie er dem unbequemen Namen Spinoza aus dem Wege
geht! — Wer sich von dem ganzen Proceß dieser Umbildung eine genügende Vorstellung ver¬
schaffen will, muß ihn durch alle früheren Arbeiten hindurch verfolgen. Manchmal werden
ganze Seiten eingeschoben; (vgl. die Griechen und Römer S. 257 mit den Werken 4, 94) oft
nur die Worte durch gelinde Modificationen der späteren Sinnesweise des Autors annehmlich
gemacht. Nicht selten gewährt diese Mühsal der Umarbeitung dem vergleichenden Leser einen
komischen Eindruck. In dem Vorworte zum Epitaphios des Lystas, dessen Ueberhebung
Schlegel in Wieland's Attischen Museum veröffentlicht hatte, fand sich der Satz: (1, 216)
„In der Urgeschichte der Menschheit sind sogar einige abergläubische Gebräuche, welche dem
Denker kindisch scheinen müssen, die ersten Zeichen ihrer höhern Bestimmung." — Dieser
harmlose Satz fand später keine Gnade mehr, und ward in den Werken 4, 167 auf folgende
Weise zurechtgerückt: „In der Urgeschichte der Menschheit sind manche eigenthümliche und
zum Theil sonderbare Todes- und Grabes-Gebräuche, welche dem Vernünftler ohne Zweck und
Bedeutung scheinen, die ersten Zeichen einer höhern Bestimmung." — Zu welchen Fehlgriffen
ein Literarhistoriker verleitet wird, der den Unterschied zwischen der früheren und späteren Ge¬
stalt der Schlegel'schen Werke nicht kennt oder nicht beachtet, — das mag man an dem trau¬
rigen Beispiele von Cholevius lernen; vgl. dessen Geschichte der deutschen Poesie nach ihren
antiken Elementen 2, 397.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/472>, abgerufen am 28.04.2024.