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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Dreißiger erreicht hatte. Im vorigen Jahre hat er den freieren Spielraum,
welcher der Presse gegeben ward, benutzt, sein politisches Programm in einem
Buche ig, Kranes nouvellezu entwickeln, in welchem wir, was die auswär¬
tige Frage betrifft die Hinneigung zum Chauvinismus bedauern, das man aber
sür die innere Politik Frankreichs nur mit großem Nutzen lesen kann. Immer¬
hin aber redet er darin noch eine sehr leise Sprache und zweifelt selbst in der
Vorrede, ob die Regierung sein Buch nicht unterdrücken werde. Ganz frei
aber hat er seine Ansichten kürzlich in zwei Vorlesungen dargelegt, welche er
in Edinburgh über die socialen und politischen Zustände Frankreichs gehalten.
Dieselben verdienten ins Deutsche übertragen zu werden, weil sie in gedrun¬
genen Zügen mit großer Sachkenntniß die innere Lage des Landes schildern, auf
deren Entwickelung Europa jetzt mit Recht in Spannung hinsieht. Wir
wollen inzwischen versuchen den Gedankengang derselben mit einigen kritischen
Bemerkungen wiederzugeben, indem wir ein anderes Buch von freier Be¬
obachtung, welches Prof. BWeres, kürzlich über die französische Gesellschaft
geschrieben, zur Vergleichung herbeiziehen.

In seiner Schilderung der gesellschaftlichen Zustände betrachtet der Verf.
der Reihe nach die Bauern, die kleinen Städte, Paris und die Familien¬
zustände.

Die Bauern, welche durch Einführung des allgemeinen Stimmrechts
zur einflußreichsten Classe geworden sind, hängen an den Grundsätzen der
Revolution von 1789, welche sie zu freien Eigenthümern gemacht hat. Die
Milliarde, durch welche die Restauration die Emigrirten entschädigte, ihre Ver¬
suche das Erstgeburtsrecht wieder herzustellen haben ihr bei der ländlichen
Bevölkerung mehr geschadet als alle Preßverfolgungen. Der Bauer hat
keinen Lord über sich, von dem er abhängt oder dem er Achtung schuldet,
die Priester haben nur in einzelnen Theilen des Landes großen Einfluß bei
ihm, der einzige Herr, den er über sich erkennt und von dem er ganz ab¬
hängt ist der Staat, genauer die Executivgewalt, 1e gouvornemsut oder
1'autor1t6 wie man sagt. Von Selbstregierung ist auf dem Lande keine
Spur, die Bauern würden die Idee derselben kaum verstehen; die Regierung
dagegen stellt sich ihm als allgegenwärtig dar, sie schickt Präfekten, Mairs,
Gensd'armen. Feldhüter, Schulmeister, sie erhebt Steuern, baut Straßen,
Kirchen, Brücken. Schulen, sie hebt die Pflichtigen zum Heer aus, sie hilft
bei Überschwemmungen, Feuersbrünsten und sonstigen Calamitäten. Es ist
begreiflich, daß der Bauer ihr unbedingt gehorcht, so lange sie nicht seine
Existenz antastet. Unter der Restauration und Julimonarchie waren die
Bauern politisch bedeutungslos, weil der hohe Census sie von den Wahlen
ausschloß, die Revolution von 1848 trieb sie durch die von ihnen nie ge¬
forderte Einführung des allgemeinen Stimmrechts plötzlich und unvorbereitet


Grenzboten IV. 1369. 69

Dreißiger erreicht hatte. Im vorigen Jahre hat er den freieren Spielraum,
welcher der Presse gegeben ward, benutzt, sein politisches Programm in einem
Buche ig, Kranes nouvellezu entwickeln, in welchem wir, was die auswär¬
tige Frage betrifft die Hinneigung zum Chauvinismus bedauern, das man aber
sür die innere Politik Frankreichs nur mit großem Nutzen lesen kann. Immer¬
hin aber redet er darin noch eine sehr leise Sprache und zweifelt selbst in der
Vorrede, ob die Regierung sein Buch nicht unterdrücken werde. Ganz frei
aber hat er seine Ansichten kürzlich in zwei Vorlesungen dargelegt, welche er
in Edinburgh über die socialen und politischen Zustände Frankreichs gehalten.
Dieselben verdienten ins Deutsche übertragen zu werden, weil sie in gedrun¬
genen Zügen mit großer Sachkenntniß die innere Lage des Landes schildern, auf
deren Entwickelung Europa jetzt mit Recht in Spannung hinsieht. Wir
wollen inzwischen versuchen den Gedankengang derselben mit einigen kritischen
Bemerkungen wiederzugeben, indem wir ein anderes Buch von freier Be¬
obachtung, welches Prof. BWeres, kürzlich über die französische Gesellschaft
geschrieben, zur Vergleichung herbeiziehen.

In seiner Schilderung der gesellschaftlichen Zustände betrachtet der Verf.
der Reihe nach die Bauern, die kleinen Städte, Paris und die Familien¬
zustände.

Die Bauern, welche durch Einführung des allgemeinen Stimmrechts
zur einflußreichsten Classe geworden sind, hängen an den Grundsätzen der
Revolution von 1789, welche sie zu freien Eigenthümern gemacht hat. Die
Milliarde, durch welche die Restauration die Emigrirten entschädigte, ihre Ver¬
suche das Erstgeburtsrecht wieder herzustellen haben ihr bei der ländlichen
Bevölkerung mehr geschadet als alle Preßverfolgungen. Der Bauer hat
keinen Lord über sich, von dem er abhängt oder dem er Achtung schuldet,
die Priester haben nur in einzelnen Theilen des Landes großen Einfluß bei
ihm, der einzige Herr, den er über sich erkennt und von dem er ganz ab¬
hängt ist der Staat, genauer die Executivgewalt, 1e gouvornemsut oder
1'autor1t6 wie man sagt. Von Selbstregierung ist auf dem Lande keine
Spur, die Bauern würden die Idee derselben kaum verstehen; die Regierung
dagegen stellt sich ihm als allgegenwärtig dar, sie schickt Präfekten, Mairs,
Gensd'armen. Feldhüter, Schulmeister, sie erhebt Steuern, baut Straßen,
Kirchen, Brücken. Schulen, sie hebt die Pflichtigen zum Heer aus, sie hilft
bei Überschwemmungen, Feuersbrünsten und sonstigen Calamitäten. Es ist
begreiflich, daß der Bauer ihr unbedingt gehorcht, so lange sie nicht seine
Existenz antastet. Unter der Restauration und Julimonarchie waren die
Bauern politisch bedeutungslos, weil der hohe Census sie von den Wahlen
ausschloß, die Revolution von 1848 trieb sie durch die von ihnen nie ge¬
forderte Einführung des allgemeinen Stimmrechts plötzlich und unvorbereitet


Grenzboten IV. 1369. 69
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[0473] Dreißiger erreicht hatte. Im vorigen Jahre hat er den freieren Spielraum, welcher der Presse gegeben ward, benutzt, sein politisches Programm in einem Buche ig, Kranes nouvellezu entwickeln, in welchem wir, was die auswär¬ tige Frage betrifft die Hinneigung zum Chauvinismus bedauern, das man aber sür die innere Politik Frankreichs nur mit großem Nutzen lesen kann. Immer¬ hin aber redet er darin noch eine sehr leise Sprache und zweifelt selbst in der Vorrede, ob die Regierung sein Buch nicht unterdrücken werde. Ganz frei aber hat er seine Ansichten kürzlich in zwei Vorlesungen dargelegt, welche er in Edinburgh über die socialen und politischen Zustände Frankreichs gehalten. Dieselben verdienten ins Deutsche übertragen zu werden, weil sie in gedrun¬ genen Zügen mit großer Sachkenntniß die innere Lage des Landes schildern, auf deren Entwickelung Europa jetzt mit Recht in Spannung hinsieht. Wir wollen inzwischen versuchen den Gedankengang derselben mit einigen kritischen Bemerkungen wiederzugeben, indem wir ein anderes Buch von freier Be¬ obachtung, welches Prof. BWeres, kürzlich über die französische Gesellschaft geschrieben, zur Vergleichung herbeiziehen. In seiner Schilderung der gesellschaftlichen Zustände betrachtet der Verf. der Reihe nach die Bauern, die kleinen Städte, Paris und die Familien¬ zustände. Die Bauern, welche durch Einführung des allgemeinen Stimmrechts zur einflußreichsten Classe geworden sind, hängen an den Grundsätzen der Revolution von 1789, welche sie zu freien Eigenthümern gemacht hat. Die Milliarde, durch welche die Restauration die Emigrirten entschädigte, ihre Ver¬ suche das Erstgeburtsrecht wieder herzustellen haben ihr bei der ländlichen Bevölkerung mehr geschadet als alle Preßverfolgungen. Der Bauer hat keinen Lord über sich, von dem er abhängt oder dem er Achtung schuldet, die Priester haben nur in einzelnen Theilen des Landes großen Einfluß bei ihm, der einzige Herr, den er über sich erkennt und von dem er ganz ab¬ hängt ist der Staat, genauer die Executivgewalt, 1e gouvornemsut oder 1'autor1t6 wie man sagt. Von Selbstregierung ist auf dem Lande keine Spur, die Bauern würden die Idee derselben kaum verstehen; die Regierung dagegen stellt sich ihm als allgegenwärtig dar, sie schickt Präfekten, Mairs, Gensd'armen. Feldhüter, Schulmeister, sie erhebt Steuern, baut Straßen, Kirchen, Brücken. Schulen, sie hebt die Pflichtigen zum Heer aus, sie hilft bei Überschwemmungen, Feuersbrünsten und sonstigen Calamitäten. Es ist begreiflich, daß der Bauer ihr unbedingt gehorcht, so lange sie nicht seine Existenz antastet. Unter der Restauration und Julimonarchie waren die Bauern politisch bedeutungslos, weil der hohe Census sie von den Wahlen ausschloß, die Revolution von 1848 trieb sie durch die von ihnen nie ge¬ forderte Einführung des allgemeinen Stimmrechts plötzlich und unvorbereitet Grenzboten IV. 1369. 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/473>, abgerufen am 13.05.2024.