Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Ueb?rschüsse der einen zur Deckung des Deficits der anderen dienen. Die
oberste Armenbehörde muß bei Senat und Bürgerschaft alljährlich ein General¬
budget der öffentlichen Stiftungen einreichen.

Soweit diese Maßregel reicht, ist sie gut. Aber man ist augenscheinlich
auf halbem Wege stehen geblieben. Eine vollständige Verschmelzung der
öffentlichen Stiftungen, eine durchgängige Aufnahme auch der Privatstistungen
in den Zusammenhang der Anstalten für öffentliche Armenpflege, insofern
sie diesem Zwecke ebenfalls dienen; kurz die Unterordnung aller nicht rein in¬
dividueller Wohlthätigkeit unter eine einzige, dem Gemeinwesen verantwort¬
liche, öffentlich handelnde und zweckentsprechend orgamsirte Leitung bleibt
noch herzustellen übrig.

Wenn dieser nothwendige, unvermeidliche Schritt aber geschehen ist, wird
eine neue Gefahr am Gesichtskreise auftauchen. Dann wird eine Stadt, deren
Armenvermögen jährlich fünf bis sechs Thaler auf den Kopf der Bevölkerung
abwirft, ohne daß der Zutritt zu dieser immer gedeckten vollen Tafel künftig
von der städtischen Herkunft oder von der Gunst irgend eines Stiftungs¬
verwalters abhinge, der vielleicht ein eingefleischter Stadtpatriot ist, beginnen,
auf das lose und verlorene Volk einer weiten Umgegend mit einer An¬
ziehungskraft zu wirken, von welcher jetzt, wo jede reichlichere Beschenkung
Sache des Stiftungsverwalters ist, keine Rede sein kann. Und da die nord¬
deutsche Freizügigkeit die Auswerfung unmittelbarer gesetzlicher Schranken
wider solche Invasion schwerlich zulassen wird, so vermag alsdann nur Eins
zu helfen: Einschränkung des Maßes der Hilfe von dem, was jetzt die Stif¬
tungen zu gewähren bereit sind, auf das, was der Armenanstalt möglich und
gestattet ist, oder selbst auf noch weniger. Die unerhörte Frage wird sich
erheben: wohin mit dem Ueberfluß der Armuth? Die Armen, welche in
Wahrheit viel zu reich sind und für die großer Reichthum noch weniger
taugt als für die Reichen, werden um ihrer selbst, um ihres dauernden und
rechten wirthschaftlichen Gedeihens willen von dem Fluche allzu reichlicher
Versorgung erlöst werden müssen.

Hier stellt sich also klar die Nothwendigkeit heraus, den Zweck einer
Stiftung angemessen abändern zu können. Wie damit in Lübecks besonderen
Verhältnissen zu verfahren, ob etwa eine Hochschule mit Jedermann zugäng¬
lichen gemeinfaßlichen Vorträgen und Unterweisungen, oder was sonst zu
gründen wäre, das kann hier füglich ununtersucht bleiben. Genug, daß
Lübeck's Beispiel das Bedürfniß legaler Stiftungsreform aufs Evidenteste er¬
gibt. Legaler Stiftungsreform sagen wir; denn daß es eine willkürliche, so
zu sagen elementare Abänderung unerfüllbar gewordener Stiftungsaufgaben
auch jetzt schon gibt, und allenthalben gibt, liegt in der Natur der Sache.
Ein Zweck, der nicht mehr erfüllt werden kann, wird natürlich auch nicht


A

die Ueb?rschüsse der einen zur Deckung des Deficits der anderen dienen. Die
oberste Armenbehörde muß bei Senat und Bürgerschaft alljährlich ein General¬
budget der öffentlichen Stiftungen einreichen.

Soweit diese Maßregel reicht, ist sie gut. Aber man ist augenscheinlich
auf halbem Wege stehen geblieben. Eine vollständige Verschmelzung der
öffentlichen Stiftungen, eine durchgängige Aufnahme auch der Privatstistungen
in den Zusammenhang der Anstalten für öffentliche Armenpflege, insofern
sie diesem Zwecke ebenfalls dienen; kurz die Unterordnung aller nicht rein in¬
dividueller Wohlthätigkeit unter eine einzige, dem Gemeinwesen verantwort¬
liche, öffentlich handelnde und zweckentsprechend orgamsirte Leitung bleibt
noch herzustellen übrig.

Wenn dieser nothwendige, unvermeidliche Schritt aber geschehen ist, wird
eine neue Gefahr am Gesichtskreise auftauchen. Dann wird eine Stadt, deren
Armenvermögen jährlich fünf bis sechs Thaler auf den Kopf der Bevölkerung
abwirft, ohne daß der Zutritt zu dieser immer gedeckten vollen Tafel künftig
von der städtischen Herkunft oder von der Gunst irgend eines Stiftungs¬
verwalters abhinge, der vielleicht ein eingefleischter Stadtpatriot ist, beginnen,
auf das lose und verlorene Volk einer weiten Umgegend mit einer An¬
ziehungskraft zu wirken, von welcher jetzt, wo jede reichlichere Beschenkung
Sache des Stiftungsverwalters ist, keine Rede sein kann. Und da die nord¬
deutsche Freizügigkeit die Auswerfung unmittelbarer gesetzlicher Schranken
wider solche Invasion schwerlich zulassen wird, so vermag alsdann nur Eins
zu helfen: Einschränkung des Maßes der Hilfe von dem, was jetzt die Stif¬
tungen zu gewähren bereit sind, auf das, was der Armenanstalt möglich und
gestattet ist, oder selbst auf noch weniger. Die unerhörte Frage wird sich
erheben: wohin mit dem Ueberfluß der Armuth? Die Armen, welche in
Wahrheit viel zu reich sind und für die großer Reichthum noch weniger
taugt als für die Reichen, werden um ihrer selbst, um ihres dauernden und
rechten wirthschaftlichen Gedeihens willen von dem Fluche allzu reichlicher
Versorgung erlöst werden müssen.

Hier stellt sich also klar die Nothwendigkeit heraus, den Zweck einer
Stiftung angemessen abändern zu können. Wie damit in Lübecks besonderen
Verhältnissen zu verfahren, ob etwa eine Hochschule mit Jedermann zugäng¬
lichen gemeinfaßlichen Vorträgen und Unterweisungen, oder was sonst zu
gründen wäre, das kann hier füglich ununtersucht bleiben. Genug, daß
Lübeck's Beispiel das Bedürfniß legaler Stiftungsreform aufs Evidenteste er¬
gibt. Legaler Stiftungsreform sagen wir; denn daß es eine willkürliche, so
zu sagen elementare Abänderung unerfüllbar gewordener Stiftungsaufgaben
auch jetzt schon gibt, und allenthalben gibt, liegt in der Natur der Sache.
Ein Zweck, der nicht mehr erfüllt werden kann, wird natürlich auch nicht


A

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0390" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123478"/>
          <p xml:id="ID_1115" prev="#ID_1114"> die Ueb?rschüsse der einen zur Deckung des Deficits der anderen dienen. Die<lb/>
oberste Armenbehörde muß bei Senat und Bürgerschaft alljährlich ein General¬<lb/>
budget der öffentlichen Stiftungen einreichen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1116"> Soweit diese Maßregel reicht, ist sie gut. Aber man ist augenscheinlich<lb/>
auf halbem Wege stehen geblieben. Eine vollständige Verschmelzung der<lb/>
öffentlichen Stiftungen, eine durchgängige Aufnahme auch der Privatstistungen<lb/>
in den Zusammenhang der Anstalten für öffentliche Armenpflege, insofern<lb/>
sie diesem Zwecke ebenfalls dienen; kurz die Unterordnung aller nicht rein in¬<lb/>
dividueller Wohlthätigkeit unter eine einzige, dem Gemeinwesen verantwort¬<lb/>
liche, öffentlich handelnde und zweckentsprechend orgamsirte Leitung bleibt<lb/>
noch herzustellen übrig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1117"> Wenn dieser nothwendige, unvermeidliche Schritt aber geschehen ist, wird<lb/>
eine neue Gefahr am Gesichtskreise auftauchen. Dann wird eine Stadt, deren<lb/>
Armenvermögen jährlich fünf bis sechs Thaler auf den Kopf der Bevölkerung<lb/>
abwirft, ohne daß der Zutritt zu dieser immer gedeckten vollen Tafel künftig<lb/>
von der städtischen Herkunft oder von der Gunst irgend eines Stiftungs¬<lb/>
verwalters abhinge, der vielleicht ein eingefleischter Stadtpatriot ist, beginnen,<lb/>
auf das lose und verlorene Volk einer weiten Umgegend mit einer An¬<lb/>
ziehungskraft zu wirken, von welcher jetzt, wo jede reichlichere Beschenkung<lb/>
Sache des Stiftungsverwalters ist, keine Rede sein kann. Und da die nord¬<lb/>
deutsche Freizügigkeit die Auswerfung unmittelbarer gesetzlicher Schranken<lb/>
wider solche Invasion schwerlich zulassen wird, so vermag alsdann nur Eins<lb/>
zu helfen: Einschränkung des Maßes der Hilfe von dem, was jetzt die Stif¬<lb/>
tungen zu gewähren bereit sind, auf das, was der Armenanstalt möglich und<lb/>
gestattet ist, oder selbst auf noch weniger. Die unerhörte Frage wird sich<lb/>
erheben: wohin mit dem Ueberfluß der Armuth? Die Armen, welche in<lb/>
Wahrheit viel zu reich sind und für die großer Reichthum noch weniger<lb/>
taugt als für die Reichen, werden um ihrer selbst, um ihres dauernden und<lb/>
rechten wirthschaftlichen Gedeihens willen von dem Fluche allzu reichlicher<lb/>
Versorgung erlöst werden müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1118" next="#ID_1119"> Hier stellt sich also klar die Nothwendigkeit heraus, den Zweck einer<lb/>
Stiftung angemessen abändern zu können. Wie damit in Lübecks besonderen<lb/>
Verhältnissen zu verfahren, ob etwa eine Hochschule mit Jedermann zugäng¬<lb/>
lichen gemeinfaßlichen Vorträgen und Unterweisungen, oder was sonst zu<lb/>
gründen wäre, das kann hier füglich ununtersucht bleiben. Genug, daß<lb/>
Lübeck's Beispiel das Bedürfniß legaler Stiftungsreform aufs Evidenteste er¬<lb/>
gibt. Legaler Stiftungsreform sagen wir; denn daß es eine willkürliche, so<lb/>
zu sagen elementare Abänderung unerfüllbar gewordener Stiftungsaufgaben<lb/>
auch jetzt schon gibt, und allenthalben gibt, liegt in der Natur der Sache.<lb/>
Ein Zweck, der nicht mehr erfüllt werden kann, wird natürlich auch nicht</p><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> A</head><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0390] die Ueb?rschüsse der einen zur Deckung des Deficits der anderen dienen. Die oberste Armenbehörde muß bei Senat und Bürgerschaft alljährlich ein General¬ budget der öffentlichen Stiftungen einreichen. Soweit diese Maßregel reicht, ist sie gut. Aber man ist augenscheinlich auf halbem Wege stehen geblieben. Eine vollständige Verschmelzung der öffentlichen Stiftungen, eine durchgängige Aufnahme auch der Privatstistungen in den Zusammenhang der Anstalten für öffentliche Armenpflege, insofern sie diesem Zwecke ebenfalls dienen; kurz die Unterordnung aller nicht rein in¬ dividueller Wohlthätigkeit unter eine einzige, dem Gemeinwesen verantwort¬ liche, öffentlich handelnde und zweckentsprechend orgamsirte Leitung bleibt noch herzustellen übrig. Wenn dieser nothwendige, unvermeidliche Schritt aber geschehen ist, wird eine neue Gefahr am Gesichtskreise auftauchen. Dann wird eine Stadt, deren Armenvermögen jährlich fünf bis sechs Thaler auf den Kopf der Bevölkerung abwirft, ohne daß der Zutritt zu dieser immer gedeckten vollen Tafel künftig von der städtischen Herkunft oder von der Gunst irgend eines Stiftungs¬ verwalters abhinge, der vielleicht ein eingefleischter Stadtpatriot ist, beginnen, auf das lose und verlorene Volk einer weiten Umgegend mit einer An¬ ziehungskraft zu wirken, von welcher jetzt, wo jede reichlichere Beschenkung Sache des Stiftungsverwalters ist, keine Rede sein kann. Und da die nord¬ deutsche Freizügigkeit die Auswerfung unmittelbarer gesetzlicher Schranken wider solche Invasion schwerlich zulassen wird, so vermag alsdann nur Eins zu helfen: Einschränkung des Maßes der Hilfe von dem, was jetzt die Stif¬ tungen zu gewähren bereit sind, auf das, was der Armenanstalt möglich und gestattet ist, oder selbst auf noch weniger. Die unerhörte Frage wird sich erheben: wohin mit dem Ueberfluß der Armuth? Die Armen, welche in Wahrheit viel zu reich sind und für die großer Reichthum noch weniger taugt als für die Reichen, werden um ihrer selbst, um ihres dauernden und rechten wirthschaftlichen Gedeihens willen von dem Fluche allzu reichlicher Versorgung erlöst werden müssen. Hier stellt sich also klar die Nothwendigkeit heraus, den Zweck einer Stiftung angemessen abändern zu können. Wie damit in Lübecks besonderen Verhältnissen zu verfahren, ob etwa eine Hochschule mit Jedermann zugäng¬ lichen gemeinfaßlichen Vorträgen und Unterweisungen, oder was sonst zu gründen wäre, das kann hier füglich ununtersucht bleiben. Genug, daß Lübeck's Beispiel das Bedürfniß legaler Stiftungsreform aufs Evidenteste er¬ gibt. Legaler Stiftungsreform sagen wir; denn daß es eine willkürliche, so zu sagen elementare Abänderung unerfüllbar gewordener Stiftungsaufgaben auch jetzt schon gibt, und allenthalben gibt, liegt in der Natur der Sache. Ein Zweck, der nicht mehr erfüllt werden kann, wird natürlich auch nicht A

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/390
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/390>, abgerufen am 24.05.2024.