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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Deutsche Geschichtschreibung im Wttelaller.
Von Heinrich Rückert.

(Ottokar Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter von der Mitte
des dreizehnten bis zum Ende des vierzehnten Jahrhundert. Berlin 1870,)

Die Geschichtschreibung unserer Nation während des früheren Mittel¬
alters ist durch Stein's wahrhaft monumentale Schöpfung, die Nonumentg.
(rermÄnias Kisten-iea, der heutigen Wissenschaft zugänglich gemacht worden.
Die zahllosen ganz unbekannten, halb bekannten und verstümmelten Denk¬
mäler, welche unter der Hand einer ganzen Schule von kritischen Heraus¬
gebern und Erklärern, hier zum ersten Male oder was dasselbe ist, zum ersten
Male brauchbar ein's Licht getreten find, geben diesem großen Nationalwerk
zugleich auch eine universelle Bedeutung. Alles, was früher oder anderwärts
für ähnliche Zwecke geleistet wurde, erscheint der deutschen Arbeit gegenüber
als Dilettantenwerk. Gelehrt mag ja immerhin ein Dilettant sein, was ihn
aber von dem Meister unterscheidet, ist die Principlosigkeit seines Standpunkts,
der Mangel einer sichern Methode in seinem Vorgehen und deshalb wird
auch ein Muratori oder ein Bouquet gegenüber dem, was die jetzige Wissen¬
schaft fordert und thatsächlich leistet, unbeschadet aller historischen Anerkennung
sich in unsern Augen nur durch ein Mehr des Wissens und des Fleißes von
dem Trosse der gewöhnlichen Dilettanten herausheben. Je dankbarer sich die
heutige Wissenschaft bewußt ist, auf den Schultern solcher Vorgänger zustehen,
um so schärfer erkennt sie auch, düß sie heute nur noch insoweit von ihnen
abhängig sein darf, als die Kraft ihres Athems und ihrer Muskeln noch
nicht ausreichen wollte, ihre eigene Arbeit an die Stelle jener zu setzen. Heute
noch müssen wir des Paulus Diaconus Geschichte des longobardischen Volkes
bei Muratori lesen, aber nur weil die schon so lange in Aussicht genommene
Bearbeitung dieses fundamentalen Geschichtswerkes in unseren deutschen Mo¬
numenten immer noch nicht zur Vollendung gediehen ist. Freilich mag es
für den, der sich gerade in dem Fall sieht, seine Studien auf eine solche Ge¬
schichtsquelle zu richten oder sie wesentlich darauf zu begründen, ein schlechter


Grenzboten II. 1871.. 4g
Deutsche Geschichtschreibung im Wttelaller.
Von Heinrich Rückert.

(Ottokar Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter von der Mitte
des dreizehnten bis zum Ende des vierzehnten Jahrhundert. Berlin 1870,)

Die Geschichtschreibung unserer Nation während des früheren Mittel¬
alters ist durch Stein's wahrhaft monumentale Schöpfung, die Nonumentg.
(rermÄnias Kisten-iea, der heutigen Wissenschaft zugänglich gemacht worden.
Die zahllosen ganz unbekannten, halb bekannten und verstümmelten Denk¬
mäler, welche unter der Hand einer ganzen Schule von kritischen Heraus¬
gebern und Erklärern, hier zum ersten Male oder was dasselbe ist, zum ersten
Male brauchbar ein's Licht getreten find, geben diesem großen Nationalwerk
zugleich auch eine universelle Bedeutung. Alles, was früher oder anderwärts
für ähnliche Zwecke geleistet wurde, erscheint der deutschen Arbeit gegenüber
als Dilettantenwerk. Gelehrt mag ja immerhin ein Dilettant sein, was ihn
aber von dem Meister unterscheidet, ist die Principlosigkeit seines Standpunkts,
der Mangel einer sichern Methode in seinem Vorgehen und deshalb wird
auch ein Muratori oder ein Bouquet gegenüber dem, was die jetzige Wissen¬
schaft fordert und thatsächlich leistet, unbeschadet aller historischen Anerkennung
sich in unsern Augen nur durch ein Mehr des Wissens und des Fleißes von
dem Trosse der gewöhnlichen Dilettanten herausheben. Je dankbarer sich die
heutige Wissenschaft bewußt ist, auf den Schultern solcher Vorgänger zustehen,
um so schärfer erkennt sie auch, düß sie heute nur noch insoweit von ihnen
abhängig sein darf, als die Kraft ihres Athems und ihrer Muskeln noch
nicht ausreichen wollte, ihre eigene Arbeit an die Stelle jener zu setzen. Heute
noch müssen wir des Paulus Diaconus Geschichte des longobardischen Volkes
bei Muratori lesen, aber nur weil die schon so lange in Aussicht genommene
Bearbeitung dieses fundamentalen Geschichtswerkes in unseren deutschen Mo¬
numenten immer noch nicht zur Vollendung gediehen ist. Freilich mag es
für den, der sich gerade in dem Fall sieht, seine Studien auf eine solche Ge¬
schichtsquelle zu richten oder sie wesentlich darauf zu begründen, ein schlechter


Grenzboten II. 1871.. 4g
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[0369] Deutsche Geschichtschreibung im Wttelaller. Von Heinrich Rückert. (Ottokar Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter von der Mitte des dreizehnten bis zum Ende des vierzehnten Jahrhundert. Berlin 1870,) Die Geschichtschreibung unserer Nation während des früheren Mittel¬ alters ist durch Stein's wahrhaft monumentale Schöpfung, die Nonumentg. (rermÄnias Kisten-iea, der heutigen Wissenschaft zugänglich gemacht worden. Die zahllosen ganz unbekannten, halb bekannten und verstümmelten Denk¬ mäler, welche unter der Hand einer ganzen Schule von kritischen Heraus¬ gebern und Erklärern, hier zum ersten Male oder was dasselbe ist, zum ersten Male brauchbar ein's Licht getreten find, geben diesem großen Nationalwerk zugleich auch eine universelle Bedeutung. Alles, was früher oder anderwärts für ähnliche Zwecke geleistet wurde, erscheint der deutschen Arbeit gegenüber als Dilettantenwerk. Gelehrt mag ja immerhin ein Dilettant sein, was ihn aber von dem Meister unterscheidet, ist die Principlosigkeit seines Standpunkts, der Mangel einer sichern Methode in seinem Vorgehen und deshalb wird auch ein Muratori oder ein Bouquet gegenüber dem, was die jetzige Wissen¬ schaft fordert und thatsächlich leistet, unbeschadet aller historischen Anerkennung sich in unsern Augen nur durch ein Mehr des Wissens und des Fleißes von dem Trosse der gewöhnlichen Dilettanten herausheben. Je dankbarer sich die heutige Wissenschaft bewußt ist, auf den Schultern solcher Vorgänger zustehen, um so schärfer erkennt sie auch, düß sie heute nur noch insoweit von ihnen abhängig sein darf, als die Kraft ihres Athems und ihrer Muskeln noch nicht ausreichen wollte, ihre eigene Arbeit an die Stelle jener zu setzen. Heute noch müssen wir des Paulus Diaconus Geschichte des longobardischen Volkes bei Muratori lesen, aber nur weil die schon so lange in Aussicht genommene Bearbeitung dieses fundamentalen Geschichtswerkes in unseren deutschen Mo¬ numenten immer noch nicht zur Vollendung gediehen ist. Freilich mag es für den, der sich gerade in dem Fall sieht, seine Studien auf eine solche Ge¬ schichtsquelle zu richten oder sie wesentlich darauf zu begründen, ein schlechter Grenzboten II. 1871.. 4g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/369>, abgerufen am 02.05.2024.