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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht.
Von Max Jähns.
I.

In dem Augenblicke, in welchem Frankreich, zum dritten Male in diesem
Jahrhundert niedergeworfen und gedemüthigt von deutscher Mannhaftigkeit
und Heldenkraft, sich anschickt, die preußische Einrichtung der allgemeinen Wehr¬
pflicht einzuführen, ist es interessant, sich die Bedingungen zu vergegenwär¬
tigen, unter denen sich dieser wichtige Proceß vollziehen soll, also einen Blick
auf den historischen Boden zu werfen, in welchen der neuzupflanzende Baum
Wurzeln treiben muß.

Kaum ein Lustrum war vergangen seit Napoleon I. den Schauplatz seiner
Thaten verlassen hatte, als schon General Lamarque ein Werk herausgab:
"Ueber die Nothwendigkeit den militärischen Geist in Frankreich
wieder zu Heden." Und bereits dreißig Jahre vor ihm schrieb Turpin de
Crisse: "Wenn die französische Nation auch im allgemeinen kriegerisch ist, so
sind wir doch weit davon entfernt, Soldaten zu sein. Denn um Soldaten
im wahren Sinne des Worts zu haben, bedarf man Officiere, welche nicht
nur in der Kriegskunst unterrichtet sind, sondern auch Subordination und
Disciplin, kennen und zuerst das Beispiel derselben zu geben wissen. Der
Franzose ist brav, aber allzu hastig und setzt in sich selbst nie genug, in seinen
Vorgesetzten stets zu viele Zweifel." Diese Auslassungen trefflicher Kenner
französischen Wesens zitirt Capitain Blondel an der Spitze seines, in den
dreißiger Jahren erschienenen, außerordentlich schönen und lehrreichen Essays:
,,Lur lW äovoirs niilitkui'cis" und pflichtet ihnen vollkommen bei. "Wir lieben
den rauschenden Trommelschall, wir lieben die Koketterie der Uniformen, wir
lieben den Lärm und die Aufregungen der Schlacht; aber der Gehorsam ist
uns lästig, er ist unserem Charakter und noch mehr unserer Zeit fremd. Der
herrschende Geist der Kritik schadet der Disciplin, und nur zu oft läßt das
Studium der Rechte das Studium der Pflichten vernachlässigen. Der krie¬
gerische Geist der alten Gallier ist das Erbe ihrer Nachkommen geblieben;
aber ungeachtet dieses Ruhmes, welchen unsere Waffen sich in allen Epochen
unserer Geschichte erworben haben, ist der militärische Geist in Frankreich
dennoch selten."


Grenjboten I. 1872. 37
Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht.
Von Max Jähns.
I.

In dem Augenblicke, in welchem Frankreich, zum dritten Male in diesem
Jahrhundert niedergeworfen und gedemüthigt von deutscher Mannhaftigkeit
und Heldenkraft, sich anschickt, die preußische Einrichtung der allgemeinen Wehr¬
pflicht einzuführen, ist es interessant, sich die Bedingungen zu vergegenwär¬
tigen, unter denen sich dieser wichtige Proceß vollziehen soll, also einen Blick
auf den historischen Boden zu werfen, in welchen der neuzupflanzende Baum
Wurzeln treiben muß.

Kaum ein Lustrum war vergangen seit Napoleon I. den Schauplatz seiner
Thaten verlassen hatte, als schon General Lamarque ein Werk herausgab:
„Ueber die Nothwendigkeit den militärischen Geist in Frankreich
wieder zu Heden." Und bereits dreißig Jahre vor ihm schrieb Turpin de
Crisse: „Wenn die französische Nation auch im allgemeinen kriegerisch ist, so
sind wir doch weit davon entfernt, Soldaten zu sein. Denn um Soldaten
im wahren Sinne des Worts zu haben, bedarf man Officiere, welche nicht
nur in der Kriegskunst unterrichtet sind, sondern auch Subordination und
Disciplin, kennen und zuerst das Beispiel derselben zu geben wissen. Der
Franzose ist brav, aber allzu hastig und setzt in sich selbst nie genug, in seinen
Vorgesetzten stets zu viele Zweifel." Diese Auslassungen trefflicher Kenner
französischen Wesens zitirt Capitain Blondel an der Spitze seines, in den
dreißiger Jahren erschienenen, außerordentlich schönen und lehrreichen Essays:
,,Lur lW äovoirs niilitkui'cis" und pflichtet ihnen vollkommen bei. „Wir lieben
den rauschenden Trommelschall, wir lieben die Koketterie der Uniformen, wir
lieben den Lärm und die Aufregungen der Schlacht; aber der Gehorsam ist
uns lästig, er ist unserem Charakter und noch mehr unserer Zeit fremd. Der
herrschende Geist der Kritik schadet der Disciplin, und nur zu oft läßt das
Studium der Rechte das Studium der Pflichten vernachlässigen. Der krie¬
gerische Geist der alten Gallier ist das Erbe ihrer Nachkommen geblieben;
aber ungeachtet dieses Ruhmes, welchen unsere Waffen sich in allen Epochen
unserer Geschichte erworben haben, ist der militärische Geist in Frankreich
dennoch selten."


Grenjboten I. 1872. 37
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[0297] Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht. Von Max Jähns. I. In dem Augenblicke, in welchem Frankreich, zum dritten Male in diesem Jahrhundert niedergeworfen und gedemüthigt von deutscher Mannhaftigkeit und Heldenkraft, sich anschickt, die preußische Einrichtung der allgemeinen Wehr¬ pflicht einzuführen, ist es interessant, sich die Bedingungen zu vergegenwär¬ tigen, unter denen sich dieser wichtige Proceß vollziehen soll, also einen Blick auf den historischen Boden zu werfen, in welchen der neuzupflanzende Baum Wurzeln treiben muß. Kaum ein Lustrum war vergangen seit Napoleon I. den Schauplatz seiner Thaten verlassen hatte, als schon General Lamarque ein Werk herausgab: „Ueber die Nothwendigkeit den militärischen Geist in Frankreich wieder zu Heden." Und bereits dreißig Jahre vor ihm schrieb Turpin de Crisse: „Wenn die französische Nation auch im allgemeinen kriegerisch ist, so sind wir doch weit davon entfernt, Soldaten zu sein. Denn um Soldaten im wahren Sinne des Worts zu haben, bedarf man Officiere, welche nicht nur in der Kriegskunst unterrichtet sind, sondern auch Subordination und Disciplin, kennen und zuerst das Beispiel derselben zu geben wissen. Der Franzose ist brav, aber allzu hastig und setzt in sich selbst nie genug, in seinen Vorgesetzten stets zu viele Zweifel." Diese Auslassungen trefflicher Kenner französischen Wesens zitirt Capitain Blondel an der Spitze seines, in den dreißiger Jahren erschienenen, außerordentlich schönen und lehrreichen Essays: ,,Lur lW äovoirs niilitkui'cis" und pflichtet ihnen vollkommen bei. „Wir lieben den rauschenden Trommelschall, wir lieben die Koketterie der Uniformen, wir lieben den Lärm und die Aufregungen der Schlacht; aber der Gehorsam ist uns lästig, er ist unserem Charakter und noch mehr unserer Zeit fremd. Der herrschende Geist der Kritik schadet der Disciplin, und nur zu oft läßt das Studium der Rechte das Studium der Pflichten vernachlässigen. Der krie¬ gerische Geist der alten Gallier ist das Erbe ihrer Nachkommen geblieben; aber ungeachtet dieses Ruhmes, welchen unsere Waffen sich in allen Epochen unserer Geschichte erworben haben, ist der militärische Geist in Frankreich dennoch selten." Grenjboten I. 1872. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/297>, abgerufen am 07.05.2024.