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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Die Derwälschung der deutschen Sprache.

Wer den Inhalt unsrer Wochen- und Monatsschriften mit einiger Auf¬
merksamkeit verfolgt, dem wird es nicht entgangen sein, daß in der letzten
Zeit häusiger als sonst die Sprache, insbesondere unsere Muttersprache, von
ihnen zum Gegenstande der Erörterung gemacht worden ist. Diese Erscheinung
wäre an sich eine höchst erfreuliche zu nennen; denn gewiß ist es wünschens¬
wert!), daß literarische Organe, die alles, was das Leben unseres Volkes in
Politik, Literatur und Kunst angeht, in den Kreis ihrer Betrachtung ziehen, dann
und wann auch einen Blick auf unsere Sprache und ihre dermalige künstlerische
Behandlung werfen. Wenn nur die Ursachen dieser Erscheinung nicht so betrü¬
bender Natur wären. Diese Ursachen sind aber leider keine andern als die in bedenk¬
lichster Weise fortschreitende Depravation unsrer Grammatik und Verlotterung
unsres Stils. Wer Augen hat zu sehen, der sehe: In der fachwissenschaftlichen wie
in der belletristischen Literatur, im Essay wie im Roman, im Leitartikel wie
im Feuilleton -- unter zehn, die die Feder führen, kaum einer, der die Fähig¬
keit hat und der es für der Mühe Werth hält, in alle Wege correct oder
gar fließend und wohlklingend zu schreiben. Wir wollen hier nicht darnach
fragen, wen die Hauptschuld an dieser Sprachverderberei trifft: ob den in
fieberhafter Hast producirenden Journalismus, der von einem Tage zum andern
aus der Hand in den Mund lebt und nicht Zeit findet, die Erzeugnisse seiner
Feder zu überdenken; ob jene lebenden Uebersetzungsmaschinen, deren leicht¬
fertige Fabrikate ebenfalls unbesehen und unerwogen vom Schreibtische nach
dem Setzerpulte wandern; ob jenes "schreibende Gelehrtenthum" -- wie es
Riehl neuerdings so treffend im Gegensatz zum "wissenschaftlichen Schrift-
stellerthum" bezeichnet hat --, welches die Mittheilung der Resultate seiner
wissenschaftlichen Forschungen so oft über alle grammatischen und aesthetischen
Gesetze erhaben glaubt. Genug, die Thatsache ist vorhanden und tritt von
Jahr zu Jahr unverhüllter hervor. Gestand doch uns selbst vor kurzem
einer unserer besten Stilisten, aus dessen einem Buche ein beträchtlicher Abschnitt
in ein weitverbreitetes deutsches Lesebuch als Musterstück deutscher Prosa auf¬
genommen ist, daß er, seit er als Chefredacteur an der Spitze einer großen,


Grenzboten I. 1874. 41
Die Derwälschung der deutschen Sprache.

Wer den Inhalt unsrer Wochen- und Monatsschriften mit einiger Auf¬
merksamkeit verfolgt, dem wird es nicht entgangen sein, daß in der letzten
Zeit häusiger als sonst die Sprache, insbesondere unsere Muttersprache, von
ihnen zum Gegenstande der Erörterung gemacht worden ist. Diese Erscheinung
wäre an sich eine höchst erfreuliche zu nennen; denn gewiß ist es wünschens¬
wert!), daß literarische Organe, die alles, was das Leben unseres Volkes in
Politik, Literatur und Kunst angeht, in den Kreis ihrer Betrachtung ziehen, dann
und wann auch einen Blick auf unsere Sprache und ihre dermalige künstlerische
Behandlung werfen. Wenn nur die Ursachen dieser Erscheinung nicht so betrü¬
bender Natur wären. Diese Ursachen sind aber leider keine andern als die in bedenk¬
lichster Weise fortschreitende Depravation unsrer Grammatik und Verlotterung
unsres Stils. Wer Augen hat zu sehen, der sehe: In der fachwissenschaftlichen wie
in der belletristischen Literatur, im Essay wie im Roman, im Leitartikel wie
im Feuilleton — unter zehn, die die Feder führen, kaum einer, der die Fähig¬
keit hat und der es für der Mühe Werth hält, in alle Wege correct oder
gar fließend und wohlklingend zu schreiben. Wir wollen hier nicht darnach
fragen, wen die Hauptschuld an dieser Sprachverderberei trifft: ob den in
fieberhafter Hast producirenden Journalismus, der von einem Tage zum andern
aus der Hand in den Mund lebt und nicht Zeit findet, die Erzeugnisse seiner
Feder zu überdenken; ob jene lebenden Uebersetzungsmaschinen, deren leicht¬
fertige Fabrikate ebenfalls unbesehen und unerwogen vom Schreibtische nach
dem Setzerpulte wandern; ob jenes „schreibende Gelehrtenthum" — wie es
Riehl neuerdings so treffend im Gegensatz zum „wissenschaftlichen Schrift-
stellerthum" bezeichnet hat —, welches die Mittheilung der Resultate seiner
wissenschaftlichen Forschungen so oft über alle grammatischen und aesthetischen
Gesetze erhaben glaubt. Genug, die Thatsache ist vorhanden und tritt von
Jahr zu Jahr unverhüllter hervor. Gestand doch uns selbst vor kurzem
einer unserer besten Stilisten, aus dessen einem Buche ein beträchtlicher Abschnitt
in ein weitverbreitetes deutsches Lesebuch als Musterstück deutscher Prosa auf¬
genommen ist, daß er, seit er als Chefredacteur an der Spitze einer großen,


Grenzboten I. 1874. 41
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[0327] Die Derwälschung der deutschen Sprache. Wer den Inhalt unsrer Wochen- und Monatsschriften mit einiger Auf¬ merksamkeit verfolgt, dem wird es nicht entgangen sein, daß in der letzten Zeit häusiger als sonst die Sprache, insbesondere unsere Muttersprache, von ihnen zum Gegenstande der Erörterung gemacht worden ist. Diese Erscheinung wäre an sich eine höchst erfreuliche zu nennen; denn gewiß ist es wünschens¬ wert!), daß literarische Organe, die alles, was das Leben unseres Volkes in Politik, Literatur und Kunst angeht, in den Kreis ihrer Betrachtung ziehen, dann und wann auch einen Blick auf unsere Sprache und ihre dermalige künstlerische Behandlung werfen. Wenn nur die Ursachen dieser Erscheinung nicht so betrü¬ bender Natur wären. Diese Ursachen sind aber leider keine andern als die in bedenk¬ lichster Weise fortschreitende Depravation unsrer Grammatik und Verlotterung unsres Stils. Wer Augen hat zu sehen, der sehe: In der fachwissenschaftlichen wie in der belletristischen Literatur, im Essay wie im Roman, im Leitartikel wie im Feuilleton — unter zehn, die die Feder führen, kaum einer, der die Fähig¬ keit hat und der es für der Mühe Werth hält, in alle Wege correct oder gar fließend und wohlklingend zu schreiben. Wir wollen hier nicht darnach fragen, wen die Hauptschuld an dieser Sprachverderberei trifft: ob den in fieberhafter Hast producirenden Journalismus, der von einem Tage zum andern aus der Hand in den Mund lebt und nicht Zeit findet, die Erzeugnisse seiner Feder zu überdenken; ob jene lebenden Uebersetzungsmaschinen, deren leicht¬ fertige Fabrikate ebenfalls unbesehen und unerwogen vom Schreibtische nach dem Setzerpulte wandern; ob jenes „schreibende Gelehrtenthum" — wie es Riehl neuerdings so treffend im Gegensatz zum „wissenschaftlichen Schrift- stellerthum" bezeichnet hat —, welches die Mittheilung der Resultate seiner wissenschaftlichen Forschungen so oft über alle grammatischen und aesthetischen Gesetze erhaben glaubt. Genug, die Thatsache ist vorhanden und tritt von Jahr zu Jahr unverhüllter hervor. Gestand doch uns selbst vor kurzem einer unserer besten Stilisten, aus dessen einem Buche ein beträchtlicher Abschnitt in ein weitverbreitetes deutsches Lesebuch als Musterstück deutscher Prosa auf¬ genommen ist, daß er, seit er als Chefredacteur an der Spitze einer großen, Grenzboten I. 1874. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/327>, abgerufen am 28.04.2024.