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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Volkes ethischen Inhalt gewinnen. Mit der Geschichte aber hat die Mytho¬
logie direct nichts zu thun. Auch die an jene Stelle sich knüpfende Bemerkung,
der Aberglaube sei aus Volksmärchen entstanden, zeigt, daß der Verfasser sich
hier nicht auf dem Gebiete befindet, auf dem er zu Hause ist und ein richtiges
Urtheil hat.


Eine Philosophie des gesunden Menschenverstandes. Gedanken über
das Wesen der menschlichen Erscheinung von Lazar B. Hellenbach.
Wien, 1876, W. Braumüller.

Die in dieser Schrift vertretene Anschauung der Dinge will nicht, wie
man nach dem Titel der Schrift meinen könnte, ein Philosophiren ohne
wissenschaftliche Vorbildung und wissenschaftliche Methode sein, sondern nennt
sich eine Philosophie des gesunden Menschenverstandes vorzüglich deshalb,
weil sie sich an das Gegebene hält und nicht weiter zu gehen versucht, als
die Grenzen des menschlichen Erkenntnißvermögens reichen, mit andern Worten,
weil sie nur die Causalkette eine kleine Strecke emporsteigt, während die
meisten Philosophen von oben herab, von Principien aus, die Welt in Ge¬
danken construiren. Ihrem Wesen nach ist jene Anschauung eine in ihren
Consequenzen weit abgehende Abzweigung der Schopenhauer'schen, von der
sie sich durch verschiedene Auffassung der Kantischen Idealität von Zeit und
Raum trennt, wodurch wieder die Wurzel der Jndiviouation sich als weiter
reichend darstellt, als Schopenhauer glaubt. Die Grundvoraussetzungen, auf
welchen der Verfasser sein System aufbaut, sind: die secundäre, vielleicht
tertiäre Natur des menschlichen Bewußtseins, die Unzulänglichkeit einer ab¬
sichtslosen, zufälligen Combination der bekannten Stoffe als Erklärungsgrund
für die menschliche Erscheinung und die organische Welt überhaupt, der "recti-
ficirte" Kantische Idealismus und die hierdurch gewonnene größere Durch¬
sichtigkeit des Welträthsels. In den ersten vier Kapiteln nimmt der Verfasser
Stellung gegenüber den drei Anschauungen, in welche sich der intelligente
Theil der Menschheit spaltet: der spiritualistischen. der materialistischen und der
durch den kritischen Idealismus inaugurirten Anschauung der neuern Philo¬
sophie bis auf Schopenhauer und Hartmann. Im fünften Abschnitt be¬
schäftigt er sich mit "anormalen Organisationen", worunter er das versteht,
was gewisse Schüler Schelling's als "Mittelreich" und "Nachtseite der Natur"
bezeichneten, Somnambulismus, Visionen, Wahrträume und Prophezeiungen
also, Organisationen, denen er mit anerkennenswerther Vorsicht gegenüber¬
steht, welche nach ihm aber doch "Beweismittel von zwingender Nothwendig¬
keit für und gegen so manche bestehende Anschauungen enthalten, und welche
ganz unverdienter Maßen einer objectiven Würdigung nicht unterzogen werden,
sondern einem stupenden Aberglauben (dem Spiritismus) überlassen sind, der


Volkes ethischen Inhalt gewinnen. Mit der Geschichte aber hat die Mytho¬
logie direct nichts zu thun. Auch die an jene Stelle sich knüpfende Bemerkung,
der Aberglaube sei aus Volksmärchen entstanden, zeigt, daß der Verfasser sich
hier nicht auf dem Gebiete befindet, auf dem er zu Hause ist und ein richtiges
Urtheil hat.


Eine Philosophie des gesunden Menschenverstandes. Gedanken über
das Wesen der menschlichen Erscheinung von Lazar B. Hellenbach.
Wien, 1876, W. Braumüller.

Die in dieser Schrift vertretene Anschauung der Dinge will nicht, wie
man nach dem Titel der Schrift meinen könnte, ein Philosophiren ohne
wissenschaftliche Vorbildung und wissenschaftliche Methode sein, sondern nennt
sich eine Philosophie des gesunden Menschenverstandes vorzüglich deshalb,
weil sie sich an das Gegebene hält und nicht weiter zu gehen versucht, als
die Grenzen des menschlichen Erkenntnißvermögens reichen, mit andern Worten,
weil sie nur die Causalkette eine kleine Strecke emporsteigt, während die
meisten Philosophen von oben herab, von Principien aus, die Welt in Ge¬
danken construiren. Ihrem Wesen nach ist jene Anschauung eine in ihren
Consequenzen weit abgehende Abzweigung der Schopenhauer'schen, von der
sie sich durch verschiedene Auffassung der Kantischen Idealität von Zeit und
Raum trennt, wodurch wieder die Wurzel der Jndiviouation sich als weiter
reichend darstellt, als Schopenhauer glaubt. Die Grundvoraussetzungen, auf
welchen der Verfasser sein System aufbaut, sind: die secundäre, vielleicht
tertiäre Natur des menschlichen Bewußtseins, die Unzulänglichkeit einer ab¬
sichtslosen, zufälligen Combination der bekannten Stoffe als Erklärungsgrund
für die menschliche Erscheinung und die organische Welt überhaupt, der „recti-
ficirte" Kantische Idealismus und die hierdurch gewonnene größere Durch¬
sichtigkeit des Welträthsels. In den ersten vier Kapiteln nimmt der Verfasser
Stellung gegenüber den drei Anschauungen, in welche sich der intelligente
Theil der Menschheit spaltet: der spiritualistischen. der materialistischen und der
durch den kritischen Idealismus inaugurirten Anschauung der neuern Philo¬
sophie bis auf Schopenhauer und Hartmann. Im fünften Abschnitt be¬
schäftigt er sich mit „anormalen Organisationen", worunter er das versteht,
was gewisse Schüler Schelling's als „Mittelreich" und „Nachtseite der Natur"
bezeichneten, Somnambulismus, Visionen, Wahrträume und Prophezeiungen
also, Organisationen, denen er mit anerkennenswerther Vorsicht gegenüber¬
steht, welche nach ihm aber doch „Beweismittel von zwingender Nothwendig¬
keit für und gegen so manche bestehende Anschauungen enthalten, und welche
ganz unverdienter Maßen einer objectiven Würdigung nicht unterzogen werden,
sondern einem stupenden Aberglauben (dem Spiritismus) überlassen sind, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/202>, abgerufen am 29.04.2024.