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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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ganz ungerechtfertigte Schlüsse daraus zieht. Die beiden letzten Kapitel und
das Schlußwort endlich geben die Resultate, zu denen der Verfasser gelangt.
Dieselben sind im Wesentlichen folgende:

Das Wesen unsrer Erscheinung liegt nicht in unserm Bewußtsein, der
bekannte Stoff kann nicht das organisirende Princip sein, die menschliche
Erscheinung hat den Willen Schopenhauer's oder eine diesem entsprechende
All- eine Naturkraft nicht zur unmittelbaren Unterlage, weshalb die Wurzeln
der Individualität über die menschliche Erscheinungsform hinausragen. Wenn
wir aus den Sätzen: das Bewußtsein ist nur der Reflex uns unbekannter Ge¬
hirnvorgänge, der organische Bau verräth Absicht und Intelligenz, die der be¬
kannte Stoff nicht haben kann, die Wurzel der Individualität ragt über die
menschliche Erscheinungsform hinaus, den Begriff einer Seele construiren,
so können wir allenfalls noch sagen: diese Seele muß Intelligenz und Willen
haben, weil sie organistrt. sie muß etwas Stoffliches sein, weil sie auf den
Stoff wirkt und aus ihm Organe entwickelt, sie muß etwas Organisirtes sein,
weil Wahrnehmungen vorhanden sind, die den Schluß erlauben, daß sie durch
ihre Organisation in wesentlich andren physikalischen Verhältnissen, insbesondere
in andren Raum- und Zeitverhältnissen existtre. Hier hört der Faden des
Begründeten für das Transcendente aus und beginnt die Reihe des Wahr¬
scheinlichen und endlich die des Möglichen. Wenn wir aber die zufällige
Stoffcombinatlon für so wunderbare Organismen ausschließen und eine ge¬
wallte annehmen müssen, wenn wir diesen Willen weder als ein an sich Un¬
bewußtes noch als All-Einen für die Dauer der uns bekannten Welt annehmen
können, so bleibt nichts als das Princip der Seelenwanderung, wie es auch
geartet sein mag. Die Seele ist nichts Einfaches, nichts Immaterielles, nichts
Metaphysisches, mehr wissen wir nicht. Wir müssen uns damit begnügen,
zu wissen, daß der Mensch die zeitliche Erscheinungsform einer Seele sei,
welche vielleicht keine ewige, wohl aber eine unser Fassungsvermögen über¬
steigende lange und andersartige Existenz habe. Unser menschliches Leben
ist "nur ein Tag aus einem andern langen Lebenslaufe." -- "Wohl mag
Schopenhauer darin Recht haben, daß die vollendete menschliche Organi¬
sation zur Verneinung des Lebens führe, jedoch nur dieses Lebens, der
menschlichen Daseinsform; er hätte Unrecht, zu glauben, daß diese Ver¬
neinung etwa ein otium eum Siguiwtö sei, er hätte Unrecht, weil den Kräften
der Natur nur ewige Arbeit, den organischen Wesen jeder Art nur höhere
Organisationsformen in Aussicht stehen."

Die Welt ist "eine unendliche, sich selbst überlassene organische Werkstätte,
in deren Thätigkeit kein außerhalb der Welt stehendes metaphysisches Princip
eingreift. Das Organisirende ist kein einheitlicher Wille, keine undefinirte
einheitliche Naturkraft, sondern eine Vielheit; die Arbeiter in dieser riefen-


ganz ungerechtfertigte Schlüsse daraus zieht. Die beiden letzten Kapitel und
das Schlußwort endlich geben die Resultate, zu denen der Verfasser gelangt.
Dieselben sind im Wesentlichen folgende:

Das Wesen unsrer Erscheinung liegt nicht in unserm Bewußtsein, der
bekannte Stoff kann nicht das organisirende Princip sein, die menschliche
Erscheinung hat den Willen Schopenhauer's oder eine diesem entsprechende
All- eine Naturkraft nicht zur unmittelbaren Unterlage, weshalb die Wurzeln
der Individualität über die menschliche Erscheinungsform hinausragen. Wenn
wir aus den Sätzen: das Bewußtsein ist nur der Reflex uns unbekannter Ge¬
hirnvorgänge, der organische Bau verräth Absicht und Intelligenz, die der be¬
kannte Stoff nicht haben kann, die Wurzel der Individualität ragt über die
menschliche Erscheinungsform hinaus, den Begriff einer Seele construiren,
so können wir allenfalls noch sagen: diese Seele muß Intelligenz und Willen
haben, weil sie organistrt. sie muß etwas Stoffliches sein, weil sie auf den
Stoff wirkt und aus ihm Organe entwickelt, sie muß etwas Organisirtes sein,
weil Wahrnehmungen vorhanden sind, die den Schluß erlauben, daß sie durch
ihre Organisation in wesentlich andren physikalischen Verhältnissen, insbesondere
in andren Raum- und Zeitverhältnissen existtre. Hier hört der Faden des
Begründeten für das Transcendente aus und beginnt die Reihe des Wahr¬
scheinlichen und endlich die des Möglichen. Wenn wir aber die zufällige
Stoffcombinatlon für so wunderbare Organismen ausschließen und eine ge¬
wallte annehmen müssen, wenn wir diesen Willen weder als ein an sich Un¬
bewußtes noch als All-Einen für die Dauer der uns bekannten Welt annehmen
können, so bleibt nichts als das Princip der Seelenwanderung, wie es auch
geartet sein mag. Die Seele ist nichts Einfaches, nichts Immaterielles, nichts
Metaphysisches, mehr wissen wir nicht. Wir müssen uns damit begnügen,
zu wissen, daß der Mensch die zeitliche Erscheinungsform einer Seele sei,
welche vielleicht keine ewige, wohl aber eine unser Fassungsvermögen über¬
steigende lange und andersartige Existenz habe. Unser menschliches Leben
ist „nur ein Tag aus einem andern langen Lebenslaufe." — „Wohl mag
Schopenhauer darin Recht haben, daß die vollendete menschliche Organi¬
sation zur Verneinung des Lebens führe, jedoch nur dieses Lebens, der
menschlichen Daseinsform; er hätte Unrecht, zu glauben, daß diese Ver¬
neinung etwa ein otium eum Siguiwtö sei, er hätte Unrecht, weil den Kräften
der Natur nur ewige Arbeit, den organischen Wesen jeder Art nur höhere
Organisationsformen in Aussicht stehen."

Die Welt ist „eine unendliche, sich selbst überlassene organische Werkstätte,
in deren Thätigkeit kein außerhalb der Welt stehendes metaphysisches Princip
eingreift. Das Organisirende ist kein einheitlicher Wille, keine undefinirte
einheitliche Naturkraft, sondern eine Vielheit; die Arbeiter in dieser riefen-


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[0203] ganz ungerechtfertigte Schlüsse daraus zieht. Die beiden letzten Kapitel und das Schlußwort endlich geben die Resultate, zu denen der Verfasser gelangt. Dieselben sind im Wesentlichen folgende: Das Wesen unsrer Erscheinung liegt nicht in unserm Bewußtsein, der bekannte Stoff kann nicht das organisirende Princip sein, die menschliche Erscheinung hat den Willen Schopenhauer's oder eine diesem entsprechende All- eine Naturkraft nicht zur unmittelbaren Unterlage, weshalb die Wurzeln der Individualität über die menschliche Erscheinungsform hinausragen. Wenn wir aus den Sätzen: das Bewußtsein ist nur der Reflex uns unbekannter Ge¬ hirnvorgänge, der organische Bau verräth Absicht und Intelligenz, die der be¬ kannte Stoff nicht haben kann, die Wurzel der Individualität ragt über die menschliche Erscheinungsform hinaus, den Begriff einer Seele construiren, so können wir allenfalls noch sagen: diese Seele muß Intelligenz und Willen haben, weil sie organistrt. sie muß etwas Stoffliches sein, weil sie auf den Stoff wirkt und aus ihm Organe entwickelt, sie muß etwas Organisirtes sein, weil Wahrnehmungen vorhanden sind, die den Schluß erlauben, daß sie durch ihre Organisation in wesentlich andren physikalischen Verhältnissen, insbesondere in andren Raum- und Zeitverhältnissen existtre. Hier hört der Faden des Begründeten für das Transcendente aus und beginnt die Reihe des Wahr¬ scheinlichen und endlich die des Möglichen. Wenn wir aber die zufällige Stoffcombinatlon für so wunderbare Organismen ausschließen und eine ge¬ wallte annehmen müssen, wenn wir diesen Willen weder als ein an sich Un¬ bewußtes noch als All-Einen für die Dauer der uns bekannten Welt annehmen können, so bleibt nichts als das Princip der Seelenwanderung, wie es auch geartet sein mag. Die Seele ist nichts Einfaches, nichts Immaterielles, nichts Metaphysisches, mehr wissen wir nicht. Wir müssen uns damit begnügen, zu wissen, daß der Mensch die zeitliche Erscheinungsform einer Seele sei, welche vielleicht keine ewige, wohl aber eine unser Fassungsvermögen über¬ steigende lange und andersartige Existenz habe. Unser menschliches Leben ist „nur ein Tag aus einem andern langen Lebenslaufe." — „Wohl mag Schopenhauer darin Recht haben, daß die vollendete menschliche Organi¬ sation zur Verneinung des Lebens führe, jedoch nur dieses Lebens, der menschlichen Daseinsform; er hätte Unrecht, zu glauben, daß diese Ver¬ neinung etwa ein otium eum Siguiwtö sei, er hätte Unrecht, weil den Kräften der Natur nur ewige Arbeit, den organischen Wesen jeder Art nur höhere Organisationsformen in Aussicht stehen." Die Welt ist „eine unendliche, sich selbst überlassene organische Werkstätte, in deren Thätigkeit kein außerhalb der Welt stehendes metaphysisches Princip eingreift. Das Organisirende ist kein einheitlicher Wille, keine undefinirte einheitliche Naturkraft, sondern eine Vielheit; die Arbeiter in dieser riefen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/203>, abgerufen am 15.05.2024.