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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Die Schlange in der JolKsphantasie.
Von Moritz Busch.

Mehr als die meisten andern Thiere hat die Schlange schon in sehr
fruher Zeit den Menschen zu denken gegeben, und infolge dessen spielte sie
^reits in Glaube und Brauch, Mythe und Sage des Alterthums eine
^'adlige Rolle. Ihr Wohnen in der Erde, ihre Fortbewegung ohne Füße,
Gliederlosigkeit überhaupt, ihr stummes Züngeln und ihr ganzes laut-
^ses Wesen hatten etwas Geheimnißvolles. Ihre stete Verjüngung, als welche
^ Ablegung der alten Haut und die Ersetzung durch eine neue erschien, rief
Vorstellung hervor, daß sie Alter und Tod nicht kenne, und ließ heil¬
kundigen Sinn, heilbringende Kraft, dann überhaupt wohlthätiges Wissen
Vermögen bei ihr vermuthen. Man fand ihr leises Aufsteigen aus der
^efe dem Aufsprießen des Saatkornes, ihr Sichhinringeln den Windungen
Krümmungen der Quelle ähnlich, die ebenfalls aus dem Erdboden
dachte an deren befruchtende Eigenschaft und hatte den Eindruck, auch
'e Schlange müsse etwas davon haben. Andrerseits ließ ihr brütendes Da-
^en. ihr Schleichen, die Beobachtung, daß einige dieser Reptile sich mit dem
^orderleibe aufrichten und blitzschnell vorwärts springen können, und der Um-
!^o, daß andere ein verhängnißvolles Gift in sich tragen, das glatte, kalte
^ier als unheimliches, verschlagenes, tückisches Geschöpf der Nachtseite der
atur erscheinen. So wurde die Schlange immer als etwas Räthselhaftes.
^Weilen als etwas Heiliges, bisweilen als etwas Dämonisches aufgefaßt,
^ Wurde sie in der Phantasie der Völker zu einem Thiere mit menschlichem
^ übermenschlichem Verstände, zum Symbol, zum Attribut von Göttern,
^ guten Genius, zur Kinderfreundin und lieben Hausgenossin bei dem
^U, zum Höllengezücht, zur Verkörperung des bösen Prinzips bei dem
^Nvern Menschenstamme, endlich als Bewohnerin unterirdischer Räume zur
steril! von Schätzen geistiger und materieller Art in hundert Sagen bis
^ die Gegenwart.


GrenzboKn IV. 187<i. 36
Die Schlange in der JolKsphantasie.
Von Moritz Busch.

Mehr als die meisten andern Thiere hat die Schlange schon in sehr
fruher Zeit den Menschen zu denken gegeben, und infolge dessen spielte sie
^reits in Glaube und Brauch, Mythe und Sage des Alterthums eine
^'adlige Rolle. Ihr Wohnen in der Erde, ihre Fortbewegung ohne Füße,
Gliederlosigkeit überhaupt, ihr stummes Züngeln und ihr ganzes laut-
^ses Wesen hatten etwas Geheimnißvolles. Ihre stete Verjüngung, als welche
^ Ablegung der alten Haut und die Ersetzung durch eine neue erschien, rief
Vorstellung hervor, daß sie Alter und Tod nicht kenne, und ließ heil¬
kundigen Sinn, heilbringende Kraft, dann überhaupt wohlthätiges Wissen
Vermögen bei ihr vermuthen. Man fand ihr leises Aufsteigen aus der
^efe dem Aufsprießen des Saatkornes, ihr Sichhinringeln den Windungen
Krümmungen der Quelle ähnlich, die ebenfalls aus dem Erdboden
dachte an deren befruchtende Eigenschaft und hatte den Eindruck, auch
'e Schlange müsse etwas davon haben. Andrerseits ließ ihr brütendes Da-
^en. ihr Schleichen, die Beobachtung, daß einige dieser Reptile sich mit dem
^orderleibe aufrichten und blitzschnell vorwärts springen können, und der Um-
!^o, daß andere ein verhängnißvolles Gift in sich tragen, das glatte, kalte
^ier als unheimliches, verschlagenes, tückisches Geschöpf der Nachtseite der
atur erscheinen. So wurde die Schlange immer als etwas Räthselhaftes.
^Weilen als etwas Heiliges, bisweilen als etwas Dämonisches aufgefaßt,
^ Wurde sie in der Phantasie der Völker zu einem Thiere mit menschlichem
^ übermenschlichem Verstände, zum Symbol, zum Attribut von Göttern,
^ guten Genius, zur Kinderfreundin und lieben Hausgenossin bei dem
^U, zum Höllengezücht, zur Verkörperung des bösen Prinzips bei dem
^Nvern Menschenstamme, endlich als Bewohnerin unterirdischer Räume zur
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^ die Gegenwart.


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[0285] Die Schlange in der JolKsphantasie. Von Moritz Busch. Mehr als die meisten andern Thiere hat die Schlange schon in sehr fruher Zeit den Menschen zu denken gegeben, und infolge dessen spielte sie ^reits in Glaube und Brauch, Mythe und Sage des Alterthums eine ^'adlige Rolle. Ihr Wohnen in der Erde, ihre Fortbewegung ohne Füße, Gliederlosigkeit überhaupt, ihr stummes Züngeln und ihr ganzes laut- ^ses Wesen hatten etwas Geheimnißvolles. Ihre stete Verjüngung, als welche ^ Ablegung der alten Haut und die Ersetzung durch eine neue erschien, rief Vorstellung hervor, daß sie Alter und Tod nicht kenne, und ließ heil¬ kundigen Sinn, heilbringende Kraft, dann überhaupt wohlthätiges Wissen Vermögen bei ihr vermuthen. Man fand ihr leises Aufsteigen aus der ^efe dem Aufsprießen des Saatkornes, ihr Sichhinringeln den Windungen Krümmungen der Quelle ähnlich, die ebenfalls aus dem Erdboden dachte an deren befruchtende Eigenschaft und hatte den Eindruck, auch 'e Schlange müsse etwas davon haben. Andrerseits ließ ihr brütendes Da- ^en. ihr Schleichen, die Beobachtung, daß einige dieser Reptile sich mit dem ^orderleibe aufrichten und blitzschnell vorwärts springen können, und der Um- !^o, daß andere ein verhängnißvolles Gift in sich tragen, das glatte, kalte ^ier als unheimliches, verschlagenes, tückisches Geschöpf der Nachtseite der atur erscheinen. So wurde die Schlange immer als etwas Räthselhaftes. ^Weilen als etwas Heiliges, bisweilen als etwas Dämonisches aufgefaßt, ^ Wurde sie in der Phantasie der Völker zu einem Thiere mit menschlichem ^ übermenschlichem Verstände, zum Symbol, zum Attribut von Göttern, ^ guten Genius, zur Kinderfreundin und lieben Hausgenossin bei dem ^U, zum Höllengezücht, zur Verkörperung des bösen Prinzips bei dem ^Nvern Menschenstamme, endlich als Bewohnerin unterirdischer Räume zur steril! von Schätzen geistiger und materieller Art in hundert Sagen bis ^ die Gegenwart. GrenzboKn IV. 187<i. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/285>, abgerufen am 29.04.2024.