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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Jer Schlußstein zu "unsern vier Wänden."

Als vor einigen Jahren in diesen Blättern der Versuch gemacht wurde,
den Werth und die Bedeutung der Familienidyllen Rudolf Reichen an's
"Aus unsern vier Wänden" darzulegen, wurde zu Anfang der Abhand¬
lung das Wort eines hervorragenden deutschen Gelehrten über Reichenaus
Schriften angeführt, welches des Lobes voll war. Dieser Gelehrte blieb da¬
mals ungenannt. Jetzt, da er heimgegangen, darf sein Name unbedenklich
genannt werden. Es war Wilhelm Eduard Albrecht, der große Germanist
und Staatsrechtslehrer, der treue Hüter deutschen Verfassungsrechtes, er, das
verkörperte deutsche Gewissen, der also urtheilte über Reichenaus Schriften!
Vor allem lobte er die Treue der Schilderung, mit welcher der Lokalton und
die Volksseele der preußischen Heimath in den Bildern "aus unsern vier
Wänden" getroffen sei. Aber nicht minder freudig erkannte er an, daß in
wenig anderen Werken die Innigkeit und Eigenthümlichkeit deutschen Fami¬
lienlebens, vor Allem deutscher Kindheit und deutscher Jugendkraft und -Stre¬
bung so glückliche Darstellung gefunden habe wie hier.

Fast genau in derselben Weise wie Albrecht, urtheilte vor wenig Mona¬
ten Julian Schmidt über Reichenaus Werke in den Preußischen Jahrbüchern.
Der "trutz'ge Denker" -- wie Woldemar Wenck den bekannten Kritiker in
seinen "losen Blättern" nennt -- wird sanft und beinahe weich, wenn er davon
redet, daß er mit Reichenau derselben Stadt entstammte (Marienwerder),
und wie treu und wahr Reichenau all die Plätze und Erinnerungen der
Kindheit wieder zu beleben versteht zu unvergänglichen Dasein. Und auch
Julian Schmidt betont mit Recht, welche Bedeutung die Schriften Reichenaus
zu beanspruchen haben, mit ihrer liebvollen Beachtung des Innersten unsrer
Heimstätten, unsres gemüthlichen und kräftigen Familienlebens, und ihrer
besondern Begabung für the Ausprägung individueller Eigenthümlichkeit in
einer Zeit, wo Alles der gleichmachenden Unnatur der Mode fröhnt und der
Begriff der Häuslichkeit der unwandelbaren "vier Wände" weiten Kreisen
gänzlich abhanden zu kommen droht. Darin liegt unzweifelhaft der Haupt¬
reiz und der bleibende Werth der Reichenau'schen Familienidyllen. Jeder
kann das ermessen, der mit einem offenen Auge für seine eigene Jugend, seinen
Werdegang und die guten und bösen Symptome der lebendigen Geschichte
der Gegenwart diese kleinen inhaltsschweren Bände zur Hand nimmt. Die
Ueberzeugung wird sich Jedem aufdrängen: eine große Fülle unvergänglicher
Jugendfreude, genauester Menschenkenntniß und Beobachtung, tiefes Ver¬
ständniß für die heitersten Regungen, für die ernstesten Züge unsrer Volks¬
seele, wie sie daheim und unter Fremden, in der Kindheit, in der Jugend,


Jer Schlußstein zu „unsern vier Wänden."

Als vor einigen Jahren in diesen Blättern der Versuch gemacht wurde,
den Werth und die Bedeutung der Familienidyllen Rudolf Reichen an's
„Aus unsern vier Wänden" darzulegen, wurde zu Anfang der Abhand¬
lung das Wort eines hervorragenden deutschen Gelehrten über Reichenaus
Schriften angeführt, welches des Lobes voll war. Dieser Gelehrte blieb da¬
mals ungenannt. Jetzt, da er heimgegangen, darf sein Name unbedenklich
genannt werden. Es war Wilhelm Eduard Albrecht, der große Germanist
und Staatsrechtslehrer, der treue Hüter deutschen Verfassungsrechtes, er, das
verkörperte deutsche Gewissen, der also urtheilte über Reichenaus Schriften!
Vor allem lobte er die Treue der Schilderung, mit welcher der Lokalton und
die Volksseele der preußischen Heimath in den Bildern „aus unsern vier
Wänden" getroffen sei. Aber nicht minder freudig erkannte er an, daß in
wenig anderen Werken die Innigkeit und Eigenthümlichkeit deutschen Fami¬
lienlebens, vor Allem deutscher Kindheit und deutscher Jugendkraft und -Stre¬
bung so glückliche Darstellung gefunden habe wie hier.

Fast genau in derselben Weise wie Albrecht, urtheilte vor wenig Mona¬
ten Julian Schmidt über Reichenaus Werke in den Preußischen Jahrbüchern.
Der „trutz'ge Denker" — wie Woldemar Wenck den bekannten Kritiker in
seinen „losen Blättern" nennt — wird sanft und beinahe weich, wenn er davon
redet, daß er mit Reichenau derselben Stadt entstammte (Marienwerder),
und wie treu und wahr Reichenau all die Plätze und Erinnerungen der
Kindheit wieder zu beleben versteht zu unvergänglichen Dasein. Und auch
Julian Schmidt betont mit Recht, welche Bedeutung die Schriften Reichenaus
zu beanspruchen haben, mit ihrer liebvollen Beachtung des Innersten unsrer
Heimstätten, unsres gemüthlichen und kräftigen Familienlebens, und ihrer
besondern Begabung für the Ausprägung individueller Eigenthümlichkeit in
einer Zeit, wo Alles der gleichmachenden Unnatur der Mode fröhnt und der
Begriff der Häuslichkeit der unwandelbaren „vier Wände" weiten Kreisen
gänzlich abhanden zu kommen droht. Darin liegt unzweifelhaft der Haupt¬
reiz und der bleibende Werth der Reichenau'schen Familienidyllen. Jeder
kann das ermessen, der mit einem offenen Auge für seine eigene Jugend, seinen
Werdegang und die guten und bösen Symptome der lebendigen Geschichte
der Gegenwart diese kleinen inhaltsschweren Bände zur Hand nimmt. Die
Ueberzeugung wird sich Jedem aufdrängen: eine große Fülle unvergänglicher
Jugendfreude, genauester Menschenkenntniß und Beobachtung, tiefes Ver¬
ständniß für die heitersten Regungen, für die ernstesten Züge unsrer Volks¬
seele, wie sie daheim und unter Fremden, in der Kindheit, in der Jugend,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/422>, abgerufen am 29.04.2024.