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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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nächtigten. -- Das Einführungsgesetz ist zum Untersinken befrachtet und
überfrachtet. --

Die Strafproceßordnung, deren Berathung die Sitzungen der vergangenen
Woche ausgefüllt hat, soll den Gegenstand des nächsten Briefes bilden.


v --r.


Lin Kuck auf eine trübe Zeit.

Ein Zusammensturz ohne Gleichen war der Untergang des Deutsch¬
ordens-Staates von Alt-Livland in annähernd vier Jahren von 1568 bis
Ende 1S61. Einigermaßen läßt sich damit der furchtbare Fall Preußens
1806/7 zusammenstellen; doch erlauben zwei Verschiedenheiten keinen Vergleich.
Preußen erlag einer Nation von mindestens gleicher, wenn nicht überlegener
Kultur, Livland einer durch den Willen eines Despoten zusammengetriebenen
Barbaren-Horde. In Preußen raffte sich das Volk unter dem schweren Drucke
der Fremden zu neuer Kraft und Widerstandsfähigkeit empor, einmüthig und
kein Opfer scheuend erhob es sich nach wenigen Jahren und errang sich die
Freiheit und Selbständigkeit wieder. Die Alt-Livländer dagegen waren durch
den langen Frieden, dessen sie genossen hatten, und durch den Reichthum, den
dieser ihnen brachte, so tief in Selbst- und Genußsucht versunken, daß sie sich
selbst durch die furchtbarsten Schläge, denen je ein Kulturvolk von Barbaren
ausgesetzt war, nicht zu Eintracht und mannhaften Widerstande ermuntern
ließen.

Die Charakteristik, die zeitgenössische Schriftsteller von ihnen entwerfen,
kann man nicht ohne Schmerz, Zorn und Verachtung lesen. So sagt Rüssow ,
bis 1600 Pfarrer in Neval, die Deutschen (in Livland) seien gewaltige Krieger
im Saufen. Als es sich darum gehandelt, einen Frieden zu erkaufen, habe
niemand von seinem Mammon einen Thaler dazu geben wollen; als sie
später in ihrer Angst Geld geboten, habe der Moskowiter nicht gewollt;
ohne Schwertstreich, aus Leichtfertigkeit, aus Verrätheret seien Städte und
Schlösser übergeben worden. Und ein Volkslied aus der Zeit spottet: ^


"Das Schwert hängen sie an die Wand,
"Die Klopfkannen nehmen sie an die Hand;
"Und wer wohl saufen und pochen kann,
"Den thun sie höchlich preisen,
"Ihres Ordens Oberster muß er sein,
"Sie halten ihn für ein Meister."

nächtigten. — Das Einführungsgesetz ist zum Untersinken befrachtet und
überfrachtet. —

Die Strafproceßordnung, deren Berathung die Sitzungen der vergangenen
Woche ausgefüllt hat, soll den Gegenstand des nächsten Briefes bilden.


v —r.


Lin Kuck auf eine trübe Zeit.

Ein Zusammensturz ohne Gleichen war der Untergang des Deutsch¬
ordens-Staates von Alt-Livland in annähernd vier Jahren von 1568 bis
Ende 1S61. Einigermaßen läßt sich damit der furchtbare Fall Preußens
1806/7 zusammenstellen; doch erlauben zwei Verschiedenheiten keinen Vergleich.
Preußen erlag einer Nation von mindestens gleicher, wenn nicht überlegener
Kultur, Livland einer durch den Willen eines Despoten zusammengetriebenen
Barbaren-Horde. In Preußen raffte sich das Volk unter dem schweren Drucke
der Fremden zu neuer Kraft und Widerstandsfähigkeit empor, einmüthig und
kein Opfer scheuend erhob es sich nach wenigen Jahren und errang sich die
Freiheit und Selbständigkeit wieder. Die Alt-Livländer dagegen waren durch
den langen Frieden, dessen sie genossen hatten, und durch den Reichthum, den
dieser ihnen brachte, so tief in Selbst- und Genußsucht versunken, daß sie sich
selbst durch die furchtbarsten Schläge, denen je ein Kulturvolk von Barbaren
ausgesetzt war, nicht zu Eintracht und mannhaften Widerstande ermuntern
ließen.

Die Charakteristik, die zeitgenössische Schriftsteller von ihnen entwerfen,
kann man nicht ohne Schmerz, Zorn und Verachtung lesen. So sagt Rüssow ,
bis 1600 Pfarrer in Neval, die Deutschen (in Livland) seien gewaltige Krieger
im Saufen. Als es sich darum gehandelt, einen Frieden zu erkaufen, habe
niemand von seinem Mammon einen Thaler dazu geben wollen; als sie
später in ihrer Angst Geld geboten, habe der Moskowiter nicht gewollt;
ohne Schwertstreich, aus Leichtfertigkeit, aus Verrätheret seien Städte und
Schlösser übergeben worden. Und ein Volkslied aus der Zeit spottet: ^


„Das Schwert hängen sie an die Wand,
„Die Klopfkannen nehmen sie an die Hand;
„Und wer wohl saufen und pochen kann,
„Den thun sie höchlich preisen,
„Ihres Ordens Oberster muß er sein,
„Sie halten ihn für ein Meister."

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[0435] nächtigten. — Das Einführungsgesetz ist zum Untersinken befrachtet und überfrachtet. — Die Strafproceßordnung, deren Berathung die Sitzungen der vergangenen Woche ausgefüllt hat, soll den Gegenstand des nächsten Briefes bilden. v —r. Lin Kuck auf eine trübe Zeit. Ein Zusammensturz ohne Gleichen war der Untergang des Deutsch¬ ordens-Staates von Alt-Livland in annähernd vier Jahren von 1568 bis Ende 1S61. Einigermaßen läßt sich damit der furchtbare Fall Preußens 1806/7 zusammenstellen; doch erlauben zwei Verschiedenheiten keinen Vergleich. Preußen erlag einer Nation von mindestens gleicher, wenn nicht überlegener Kultur, Livland einer durch den Willen eines Despoten zusammengetriebenen Barbaren-Horde. In Preußen raffte sich das Volk unter dem schweren Drucke der Fremden zu neuer Kraft und Widerstandsfähigkeit empor, einmüthig und kein Opfer scheuend erhob es sich nach wenigen Jahren und errang sich die Freiheit und Selbständigkeit wieder. Die Alt-Livländer dagegen waren durch den langen Frieden, dessen sie genossen hatten, und durch den Reichthum, den dieser ihnen brachte, so tief in Selbst- und Genußsucht versunken, daß sie sich selbst durch die furchtbarsten Schläge, denen je ein Kulturvolk von Barbaren ausgesetzt war, nicht zu Eintracht und mannhaften Widerstande ermuntern ließen. Die Charakteristik, die zeitgenössische Schriftsteller von ihnen entwerfen, kann man nicht ohne Schmerz, Zorn und Verachtung lesen. So sagt Rüssow , bis 1600 Pfarrer in Neval, die Deutschen (in Livland) seien gewaltige Krieger im Saufen. Als es sich darum gehandelt, einen Frieden zu erkaufen, habe niemand von seinem Mammon einen Thaler dazu geben wollen; als sie später in ihrer Angst Geld geboten, habe der Moskowiter nicht gewollt; ohne Schwertstreich, aus Leichtfertigkeit, aus Verrätheret seien Städte und Schlösser übergeben worden. Und ein Volkslied aus der Zeit spottet: ^ „Das Schwert hängen sie an die Wand, „Die Klopfkannen nehmen sie an die Hand; „Und wer wohl saufen und pochen kann, „Den thun sie höchlich preisen, „Ihres Ordens Oberster muß er sein, „Sie halten ihn für ein Meister."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/435>, abgerufen am 29.04.2024.