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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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vererbt hat. "Es verräth (so sagt M. im 1. Bd. der Schweizergeschichte)
eine geringe Erfahrung in der Geschichte, von zwei Begebenheiten eine zu
leugnen,, weil in einem andern Land oder Jahrhundert ihr eine ähnlich war."
Die beiden von M. hier gesetzten AehnlichkeitssMe haben sich seitdem auf
viele Gleichheitsfälle vermehrt, und einem Historiker, welcher dieselben heute
noch ignorirt, wird mit dem besten Rechte vorgeworfen werden dürfen, er ver¬
nachlässige und verachte die wissenschaftliche Erfahrung. Seit dem sechsten
Jahrhundert lebt der Apfelschütze Eigil in deutschen noch vorhandenen Liedern
und sein Meisterschuß, ein Gemeingut der indogermanischen Familie, findet
sich in Persien und Skandinavien, in England und Holstein, Verwandtes
sogar bei Esther-, Finnen und Lappen. Wie lange vorher, ehe es eine Schweiz
gab, mußte also die Sage zu Völkern gedrungen sein, die heut zu Tage so
weitläufig mit einander verwandt sind und so fern von einander wohnen. Und
wie wenig ehrlich verfährt dann der Historiker, der, wie Müller, im Stillen
an keinen geschichtlichen Tell glaubt, ihn aber in seinem Geschichtswerke
mittelst eines Haufens erfundener Urkunden als wirklich und wahrhaftig am
Anfang des vierzehnten Jahrhunderts existirt habend darzustellen versucht?
Müller hatte 1783 einem Freunde geschrieben, bezüglich der Begebenheit mit
Tell sei er mit sich selber noch nicht im Reinen und werde sich mit guter
Manier aus der Sache zu ziehen suchen. Im folgenden Jahre erhielt er
von einem andern ihm befreundeten Geschichtsforscher der Schweiz einen Brief,
in dem es heißt: "Ich bin mit Ihnen vollkommen gleichstimmig, die Geschichte
des Apfels als unzuverlässig anzusehen." Dieselbe unwahrhaftigeRolle spielt der
seinerzeit vielgepriesene Geschichtsschreiber auch in Betreff der Einwanderungsfrage.
Er hatte dieselbe im ersten Bande seiner Schweizergeschichte nicht nur mit allerlei
historischen Sophismen, sondern auch mit den abenteuerlichsten Mitteln der Sprach¬
forschung verfochten. Die "Nationalsprache" der gegenwärtigen Haslithaler,
sagte er dort, sei zwar nicht schwedisch, aber auch nicht deutsch, und der Ur-
stamm ihrer Wörter könnte wohl in ein Idiotikon gesammelt werden, lasse
sich aber -- wer müßte über solch Gerede nicht lächeln -- nicht mehr er¬
rathen. Vor anderthalbtausend Jahren hingegen hätten die durch einander
wandernden Völker des Nordens einander noch nicht so sprachfremd geworden
sein können. Die Meinung Hemmerlin's, die Einwohner der Waldstätte
seien Abkömmlinge heidnischer Sachsen, die von Karl dem Großen erst in
das Innere des Frankenlandes und dann in die Alpen verpflanzt worden
seien, finde ebenfalls Unterstützung durch die auffallende Aehnlichkeit, welche
die Sprache des gemeinen Mannes in einigen Schweizerthälern mit der
Volkssprache auf dem -- Thüringer Walde habe. Daß dem Geschichtsschreiber
der Schweiz diese abgeschmackten Einfälle nicht ernst waren, bewies er in
seinem Briefwechsel mit dem Historiker v. Pfister, von dem er als Erwiderung


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vererbt hat. „Es verräth (so sagt M. im 1. Bd. der Schweizergeschichte)
eine geringe Erfahrung in der Geschichte, von zwei Begebenheiten eine zu
leugnen,, weil in einem andern Land oder Jahrhundert ihr eine ähnlich war."
Die beiden von M. hier gesetzten AehnlichkeitssMe haben sich seitdem auf
viele Gleichheitsfälle vermehrt, und einem Historiker, welcher dieselben heute
noch ignorirt, wird mit dem besten Rechte vorgeworfen werden dürfen, er ver¬
nachlässige und verachte die wissenschaftliche Erfahrung. Seit dem sechsten
Jahrhundert lebt der Apfelschütze Eigil in deutschen noch vorhandenen Liedern
und sein Meisterschuß, ein Gemeingut der indogermanischen Familie, findet
sich in Persien und Skandinavien, in England und Holstein, Verwandtes
sogar bei Esther-, Finnen und Lappen. Wie lange vorher, ehe es eine Schweiz
gab, mußte also die Sage zu Völkern gedrungen sein, die heut zu Tage so
weitläufig mit einander verwandt sind und so fern von einander wohnen. Und
wie wenig ehrlich verfährt dann der Historiker, der, wie Müller, im Stillen
an keinen geschichtlichen Tell glaubt, ihn aber in seinem Geschichtswerke
mittelst eines Haufens erfundener Urkunden als wirklich und wahrhaftig am
Anfang des vierzehnten Jahrhunderts existirt habend darzustellen versucht?
Müller hatte 1783 einem Freunde geschrieben, bezüglich der Begebenheit mit
Tell sei er mit sich selber noch nicht im Reinen und werde sich mit guter
Manier aus der Sache zu ziehen suchen. Im folgenden Jahre erhielt er
von einem andern ihm befreundeten Geschichtsforscher der Schweiz einen Brief,
in dem es heißt: „Ich bin mit Ihnen vollkommen gleichstimmig, die Geschichte
des Apfels als unzuverlässig anzusehen." Dieselbe unwahrhaftigeRolle spielt der
seinerzeit vielgepriesene Geschichtsschreiber auch in Betreff der Einwanderungsfrage.
Er hatte dieselbe im ersten Bande seiner Schweizergeschichte nicht nur mit allerlei
historischen Sophismen, sondern auch mit den abenteuerlichsten Mitteln der Sprach¬
forschung verfochten. Die „Nationalsprache" der gegenwärtigen Haslithaler,
sagte er dort, sei zwar nicht schwedisch, aber auch nicht deutsch, und der Ur-
stamm ihrer Wörter könnte wohl in ein Idiotikon gesammelt werden, lasse
sich aber — wer müßte über solch Gerede nicht lächeln — nicht mehr er¬
rathen. Vor anderthalbtausend Jahren hingegen hätten die durch einander
wandernden Völker des Nordens einander noch nicht so sprachfremd geworden
sein können. Die Meinung Hemmerlin's, die Einwohner der Waldstätte
seien Abkömmlinge heidnischer Sachsen, die von Karl dem Großen erst in
das Innere des Frankenlandes und dann in die Alpen verpflanzt worden
seien, finde ebenfalls Unterstützung durch die auffallende Aehnlichkeit, welche
die Sprache des gemeinen Mannes in einigen Schweizerthälern mit der
Volkssprache auf dem — Thüringer Walde habe. Daß dem Geschichtsschreiber
der Schweiz diese abgeschmackten Einfälle nicht ernst waren, bewies er in
seinem Briefwechsel mit dem Historiker v. Pfister, von dem er als Erwiderung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/96>, abgerufen am 29.04.2024.