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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Literaten.
Elsaß-Lothringen, seine Vergangenheit -- seine Zukunft. (Straßburg, Trübner 1876).

Der erste Theil, der unter obigem Titel bei Trübner in Straßburg er¬
schienen Brochüre wird in seinem wesentlichen Bestände von einer Reihe von
Aufsätzen gebildet, die früher bereits in der Augsburger Allgemeinen Zeitung
erschienen sind, die jedoch nicht verwechselt werden wollen mit einer früheren
etwas elegisch angehauchten Briefserie desselben Blattes, die seitdem auch von
ihrem Verfasser S. in Buchform herausgegeben worden sind. Im Gegensatz
zu diesen, weiß der unbekannte Verfasser die frische Farbe der Entschließung auf¬
zutragen, wenn er dem zu Leibe geht, was er dentschen Chauvinismus nennt,
d. h. dem Vorurtheile aller derer, welche neben der ethnographischen Verwandt¬
schaft anch eine Gemeinschaft des politischen Denkens und Fühlens im Elsaß
zu finden hofften und denen, als sie sich enttäuscht sahen, die Milch der frommen
Denkart sich in Molken verwandelte. Nach offenbar sehr gründlichen Studien,
entwickelt uns der Verfasser dann die Naturgeschichte des Elsässers, wie wir
dasselbe in That und Wahrheit im Jahre 1870 aus Frankreichs Händen zu¬
rückempfangen haben. Eine Lücke ist empfindbar, im Titel wie im Buche: für
die Gegenwart des Reichslandes muß der gehaltvolle Abschnitt des Laband'schen
"Staatsrecht des deutschen Reiches" zu Hülfe genommen werden. Dafür
kommt soweit es der Zukunft gilt, durchaus dem Verfasser eigenthümlich der in
seiner Einfachheit überraschende Vorschlag, das Reichsland in ein Kaiser-
land zu verwandeln*), den Kaiser zum Landesherrn von Elsaß-Lothringen
zu machen, um so dem Lande die Selbständigkeit zu verleihen, die ihm auf
die Dauer nicht vorenthalten werden kann, und doch alle Gefahren einer par-
tikularistischen Neuschöpfung zu vermeiden. Daß man im 19. Jahrhundert
am schnellsten eine politische Assimilation bewirkt, wenn man freieste Circu-
lation der Säfte bei engstem Anschluß gestattet, werden wohl alle Doktoren
der politischen Medicin zugestehen. Auf der andern Seite erscheint der Vor¬
schlag, den Kaiser in dieser seiner Eigenschaft mit einer Landesherrlichkeit
auszustatten, höchst förderlich für die innere Entwickelung des Reiches,
namentlich wenn es sich um Landeshoheit in einem Territorium handelt,
dessen Erwerb so eng mit der Begründung der Kaiserkrone verknüpft ist.


(? D. Red.)

> ") Dieser Vorschlag erscheint uns einfach unausführbar, wenn nicht die Reichsverfassung
" einer ihrer wichtigsten Bestimmungen, in dem Verhältniß des Kaisers zum Reiche, vollständig
^'schoben werden soll, wozu nicht die geringste Veranlassung vorliegt.
Literaten.
Elsaß-Lothringen, seine Vergangenheit — seine Zukunft. (Straßburg, Trübner 1876).

Der erste Theil, der unter obigem Titel bei Trübner in Straßburg er¬
schienen Brochüre wird in seinem wesentlichen Bestände von einer Reihe von
Aufsätzen gebildet, die früher bereits in der Augsburger Allgemeinen Zeitung
erschienen sind, die jedoch nicht verwechselt werden wollen mit einer früheren
etwas elegisch angehauchten Briefserie desselben Blattes, die seitdem auch von
ihrem Verfasser S. in Buchform herausgegeben worden sind. Im Gegensatz
zu diesen, weiß der unbekannte Verfasser die frische Farbe der Entschließung auf¬
zutragen, wenn er dem zu Leibe geht, was er dentschen Chauvinismus nennt,
d. h. dem Vorurtheile aller derer, welche neben der ethnographischen Verwandt¬
schaft anch eine Gemeinschaft des politischen Denkens und Fühlens im Elsaß
zu finden hofften und denen, als sie sich enttäuscht sahen, die Milch der frommen
Denkart sich in Molken verwandelte. Nach offenbar sehr gründlichen Studien,
entwickelt uns der Verfasser dann die Naturgeschichte des Elsässers, wie wir
dasselbe in That und Wahrheit im Jahre 1870 aus Frankreichs Händen zu¬
rückempfangen haben. Eine Lücke ist empfindbar, im Titel wie im Buche: für
die Gegenwart des Reichslandes muß der gehaltvolle Abschnitt des Laband'schen
„Staatsrecht des deutschen Reiches" zu Hülfe genommen werden. Dafür
kommt soweit es der Zukunft gilt, durchaus dem Verfasser eigenthümlich der in
seiner Einfachheit überraschende Vorschlag, das Reichsland in ein Kaiser-
land zu verwandeln*), den Kaiser zum Landesherrn von Elsaß-Lothringen
zu machen, um so dem Lande die Selbständigkeit zu verleihen, die ihm auf
die Dauer nicht vorenthalten werden kann, und doch alle Gefahren einer par-
tikularistischen Neuschöpfung zu vermeiden. Daß man im 19. Jahrhundert
am schnellsten eine politische Assimilation bewirkt, wenn man freieste Circu-
lation der Säfte bei engstem Anschluß gestattet, werden wohl alle Doktoren
der politischen Medicin zugestehen. Auf der andern Seite erscheint der Vor¬
schlag, den Kaiser in dieser seiner Eigenschaft mit einer Landesherrlichkeit
auszustatten, höchst förderlich für die innere Entwickelung des Reiches,
namentlich wenn es sich um Landeshoheit in einem Territorium handelt,
dessen Erwerb so eng mit der Begründung der Kaiserkrone verknüpft ist.


(? D. Red.)

> ") Dieser Vorschlag erscheint uns einfach unausführbar, wenn nicht die Reichsverfassung
» einer ihrer wichtigsten Bestimmungen, in dem Verhältniß des Kaisers zum Reiche, vollständig
^'schoben werden soll, wozu nicht die geringste Veranlassung vorliegt.
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[0047] Literaten. Elsaß-Lothringen, seine Vergangenheit — seine Zukunft. (Straßburg, Trübner 1876). Der erste Theil, der unter obigem Titel bei Trübner in Straßburg er¬ schienen Brochüre wird in seinem wesentlichen Bestände von einer Reihe von Aufsätzen gebildet, die früher bereits in der Augsburger Allgemeinen Zeitung erschienen sind, die jedoch nicht verwechselt werden wollen mit einer früheren etwas elegisch angehauchten Briefserie desselben Blattes, die seitdem auch von ihrem Verfasser S. in Buchform herausgegeben worden sind. Im Gegensatz zu diesen, weiß der unbekannte Verfasser die frische Farbe der Entschließung auf¬ zutragen, wenn er dem zu Leibe geht, was er dentschen Chauvinismus nennt, d. h. dem Vorurtheile aller derer, welche neben der ethnographischen Verwandt¬ schaft anch eine Gemeinschaft des politischen Denkens und Fühlens im Elsaß zu finden hofften und denen, als sie sich enttäuscht sahen, die Milch der frommen Denkart sich in Molken verwandelte. Nach offenbar sehr gründlichen Studien, entwickelt uns der Verfasser dann die Naturgeschichte des Elsässers, wie wir dasselbe in That und Wahrheit im Jahre 1870 aus Frankreichs Händen zu¬ rückempfangen haben. Eine Lücke ist empfindbar, im Titel wie im Buche: für die Gegenwart des Reichslandes muß der gehaltvolle Abschnitt des Laband'schen „Staatsrecht des deutschen Reiches" zu Hülfe genommen werden. Dafür kommt soweit es der Zukunft gilt, durchaus dem Verfasser eigenthümlich der in seiner Einfachheit überraschende Vorschlag, das Reichsland in ein Kaiser- land zu verwandeln*), den Kaiser zum Landesherrn von Elsaß-Lothringen zu machen, um so dem Lande die Selbständigkeit zu verleihen, die ihm auf die Dauer nicht vorenthalten werden kann, und doch alle Gefahren einer par- tikularistischen Neuschöpfung zu vermeiden. Daß man im 19. Jahrhundert am schnellsten eine politische Assimilation bewirkt, wenn man freieste Circu- lation der Säfte bei engstem Anschluß gestattet, werden wohl alle Doktoren der politischen Medicin zugestehen. Auf der andern Seite erscheint der Vor¬ schlag, den Kaiser in dieser seiner Eigenschaft mit einer Landesherrlichkeit auszustatten, höchst förderlich für die innere Entwickelung des Reiches, namentlich wenn es sich um Landeshoheit in einem Territorium handelt, dessen Erwerb so eng mit der Begründung der Kaiserkrone verknüpft ist. (? D. Red.) > ") Dieser Vorschlag erscheint uns einfach unausführbar, wenn nicht die Reichsverfassung » einer ihrer wichtigsten Bestimmungen, in dem Verhältniß des Kaisers zum Reiche, vollständig ^'schoben werden soll, wozu nicht die geringste Veranlassung vorliegt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/47>, abgerufen am 04.05.2024.