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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Ale sogenannte Volksetymologie.

Zu den anziehendsten Partieen der Sprachwissenschaft gehört die Etymo¬
logie, die Lehre von den Wurzeln und Stämmen der Sprache. Bis zu Ende
des vorigen Jahrhunderts so ziemlich im Dunkeln tappend und daher bis in
die neuere Zeit herein noch vielfach mit Mißtrauen betrachtet, hat sie seit dem
Emporblühen der vergleichenden Grammatik festen Boden unter den Füßen ge¬
wonnen und ist, neuerdings namentlich durch die Sprachphysiologie unterstützt,
W einer Summe sicherer Lautgesetze gelangt, die sie vor den früheren Irrwegen
ein für allemal zu bewahren im Stande sind.

Der Laie freilich, der diese Gesetze nicht kennt, der noch in der alten, ab¬
gethanen Weise operirt und seine Schlüsse auf den verführerischen, aber trüge¬
rischen Gleichklang der Worte baut, wird auch jetzt noch stillvergnügt das
französische den mit dem deutschen Feuer in Verbindung bringen, wird be¬
dauern und geruhen als Zusammensetzungen von dauern und ruhen an¬
sehen, wird unentgeltlich -- oder, wie er nach seiner Meinung richtiger
schreibt, unentgeldlich -- von Geld, gräulich von grau, durchbläuen
von blau und ungeschlacht von schlachten ableiten. Diese naiven Wort¬
erklärungen werden im Volke nie aufhören, denn sie gründen sich auf das nun
einmal auch im ungebildetsten Menschen lebende Sprachbewußtsein, welches sich
dagegen sträubt, das Wort als leeren Schall hinzunehmen. Jedes Wort soll
Sinn und Verstand haben. In dem fünfjährigen Knaben schon, der die Mutter
fragt: "Nicht wahr, der Knecht Ruprecht heißt Rü-precht, weil er eine
Ruthe hat und weil er so schone Sachen gebracht hat?" regt sich dieses
Sprachbewußtsein und wagt seine ersten Schritte, die nicht sicherer und nicht
unsicherer sind als die Schritte großer Leute auf diesem schlüpfrigen
Boden auch.

Nichts kann einen deutlicheren Beweis von diesem immer im Volke leben¬
digen und fortwährend arbeitenden Sprachbewußtsein geben, als jene in allen
gebildeten Sprachen weit verbreitete Erscheinung, welche die Wissenschaft mit


Grenzboten II. 1877. 1t!
Ale sogenannte Volksetymologie.

Zu den anziehendsten Partieen der Sprachwissenschaft gehört die Etymo¬
logie, die Lehre von den Wurzeln und Stämmen der Sprache. Bis zu Ende
des vorigen Jahrhunderts so ziemlich im Dunkeln tappend und daher bis in
die neuere Zeit herein noch vielfach mit Mißtrauen betrachtet, hat sie seit dem
Emporblühen der vergleichenden Grammatik festen Boden unter den Füßen ge¬
wonnen und ist, neuerdings namentlich durch die Sprachphysiologie unterstützt,
W einer Summe sicherer Lautgesetze gelangt, die sie vor den früheren Irrwegen
ein für allemal zu bewahren im Stande sind.

Der Laie freilich, der diese Gesetze nicht kennt, der noch in der alten, ab¬
gethanen Weise operirt und seine Schlüsse auf den verführerischen, aber trüge¬
rischen Gleichklang der Worte baut, wird auch jetzt noch stillvergnügt das
französische den mit dem deutschen Feuer in Verbindung bringen, wird be¬
dauern und geruhen als Zusammensetzungen von dauern und ruhen an¬
sehen, wird unentgeltlich — oder, wie er nach seiner Meinung richtiger
schreibt, unentgeldlich — von Geld, gräulich von grau, durchbläuen
von blau und ungeschlacht von schlachten ableiten. Diese naiven Wort¬
erklärungen werden im Volke nie aufhören, denn sie gründen sich auf das nun
einmal auch im ungebildetsten Menschen lebende Sprachbewußtsein, welches sich
dagegen sträubt, das Wort als leeren Schall hinzunehmen. Jedes Wort soll
Sinn und Verstand haben. In dem fünfjährigen Knaben schon, der die Mutter
fragt: „Nicht wahr, der Knecht Ruprecht heißt Rü-precht, weil er eine
Ruthe hat und weil er so schone Sachen gebracht hat?" regt sich dieses
Sprachbewußtsein und wagt seine ersten Schritte, die nicht sicherer und nicht
unsicherer sind als die Schritte großer Leute auf diesem schlüpfrigen
Boden auch.

Nichts kann einen deutlicheren Beweis von diesem immer im Volke leben¬
digen und fortwährend arbeitenden Sprachbewußtsein geben, als jene in allen
gebildeten Sprachen weit verbreitete Erscheinung, welche die Wissenschaft mit


Grenzboten II. 1877. 1t!
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[0125] Ale sogenannte Volksetymologie. Zu den anziehendsten Partieen der Sprachwissenschaft gehört die Etymo¬ logie, die Lehre von den Wurzeln und Stämmen der Sprache. Bis zu Ende des vorigen Jahrhunderts so ziemlich im Dunkeln tappend und daher bis in die neuere Zeit herein noch vielfach mit Mißtrauen betrachtet, hat sie seit dem Emporblühen der vergleichenden Grammatik festen Boden unter den Füßen ge¬ wonnen und ist, neuerdings namentlich durch die Sprachphysiologie unterstützt, W einer Summe sicherer Lautgesetze gelangt, die sie vor den früheren Irrwegen ein für allemal zu bewahren im Stande sind. Der Laie freilich, der diese Gesetze nicht kennt, der noch in der alten, ab¬ gethanen Weise operirt und seine Schlüsse auf den verführerischen, aber trüge¬ rischen Gleichklang der Worte baut, wird auch jetzt noch stillvergnügt das französische den mit dem deutschen Feuer in Verbindung bringen, wird be¬ dauern und geruhen als Zusammensetzungen von dauern und ruhen an¬ sehen, wird unentgeltlich — oder, wie er nach seiner Meinung richtiger schreibt, unentgeldlich — von Geld, gräulich von grau, durchbläuen von blau und ungeschlacht von schlachten ableiten. Diese naiven Wort¬ erklärungen werden im Volke nie aufhören, denn sie gründen sich auf das nun einmal auch im ungebildetsten Menschen lebende Sprachbewußtsein, welches sich dagegen sträubt, das Wort als leeren Schall hinzunehmen. Jedes Wort soll Sinn und Verstand haben. In dem fünfjährigen Knaben schon, der die Mutter fragt: „Nicht wahr, der Knecht Ruprecht heißt Rü-precht, weil er eine Ruthe hat und weil er so schone Sachen gebracht hat?" regt sich dieses Sprachbewußtsein und wagt seine ersten Schritte, die nicht sicherer und nicht unsicherer sind als die Schritte großer Leute auf diesem schlüpfrigen Boden auch. Nichts kann einen deutlicheren Beweis von diesem immer im Volke leben¬ digen und fortwährend arbeitenden Sprachbewußtsein geben, als jene in allen gebildeten Sprachen weit verbreitete Erscheinung, welche die Wissenschaft mit Grenzboten II. 1877. 1t!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/125>, abgerufen am 26.05.2024.