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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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KnechWe Irauen.
R. Echoen er. Antike Bilder von
III.

Bekannt ist die hohe Achtung, welche die weissagende Priesterin des delphi¬
schen Apollon, die Pythia, in ganz Griechenland und weit über dessen Grenzen
hinaus genoß. Auf dem heiligen Dreifuß über dem dampfenden Erdspalt
sitzend, ertheilte sie, in ekstatischen Rausch versetzt, den Fragenden die göttliche
Auskunft und bewies dadurch, daß die Götter auch deu Mund schwacher Frauen
zur Verkündigung ihrer Weisheit nicht verschmähen. Ueberhaupt hat man die
Bevorzugung von Frauen und Jungfrauen für den Dienst der Orakel und
der Mantik wohl auf die Vorstellung zurückzuführen, daß die Stimme des
Gottes durch das schwächere Gefäß reiner hindurch donc, daß das hingebende
Weib mehr als der selbständige, reflektirende Mann sich zum willenlosen Werk¬
zeug der höheren Eingebung eigne. Daher finden wir weissagende Prieste¬
rinnen an sehr vielen Orten. In dem Heiligthum des didymäischen Apollon
bei Milet weissagte eine Jungfrau, auf einer radförmigen Scheibe sitzend und
einen Stab in der Hand haltend, nachdem sie sich durch Trinken aus einer
heiligen Quelle begeistert hatte. Im Tempel des "Apollon an der Höhe"
zu Argos geschah die Weissagung durch eine Priesterin, die von dem Blute
des allmonatlich geopferten Schaflammes kostete. Sie mußte sich, wie es wohl
meistens der Fall war, in jungfräulicher Reinheit halten, wie auch die delphi¬
sche Pythia in ältester Zeit eine Jungfrau in der Blüthe der Jahre war. Erst
nachdem eine dieser jugendlichen Priesterinnen durch einen Liebhaber entführt
worden war, übertrug man das Amt an über fünfzig Jahre alte Frauen, die
aber stets Jungfranengewänder trugen. In Patara in Lykien wurde die
Prophetin zur Nachtzeit in den Tempel eingeschlossen und empfing dort die
Verkündigungen des Gottes. Greise Frauen verwalteten das Orakelamt in
dem altheiliger Dodom, wo Zeus sich im Rauschen der heiligen Eiche ver¬
nehmen ließ, und weissagungbegabte Frauen, die uralten Sibyllen, sind es vor¬
züglich, deren Einfluß das Alterthum vielfach anerkennt, die aber mit der
Ausbildung der Orakelstätten in ein mystisches Dunkel zurückwichen.

Auch die Neigung und Fähigkeit zu Beschwörungen und Zaubereien wird
vorzüglich dem weiblichen Geschlechte beigelegt. Ich erinnere nur an die uralte
grause Göttin Hekate, an die geheimnißvoll im Finstern wirkende Artemis, an
Persephone, Kybele, Kirke, Medea, Helena und Agcnnede, die Tochter des
Augias. Auch die Sirenen, Lamia, Empusa, die Strigen, Gelluden, Erinnyen
u. s. w. deuten auf jene Vorstellung hin. In Thessalien gab es eine ganze


KnechWe Irauen.
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III.

Bekannt ist die hohe Achtung, welche die weissagende Priesterin des delphi¬
schen Apollon, die Pythia, in ganz Griechenland und weit über dessen Grenzen
hinaus genoß. Auf dem heiligen Dreifuß über dem dampfenden Erdspalt
sitzend, ertheilte sie, in ekstatischen Rausch versetzt, den Fragenden die göttliche
Auskunft und bewies dadurch, daß die Götter auch deu Mund schwacher Frauen
zur Verkündigung ihrer Weisheit nicht verschmähen. Ueberhaupt hat man die
Bevorzugung von Frauen und Jungfrauen für den Dienst der Orakel und
der Mantik wohl auf die Vorstellung zurückzuführen, daß die Stimme des
Gottes durch das schwächere Gefäß reiner hindurch donc, daß das hingebende
Weib mehr als der selbständige, reflektirende Mann sich zum willenlosen Werk¬
zeug der höheren Eingebung eigne. Daher finden wir weissagende Prieste¬
rinnen an sehr vielen Orten. In dem Heiligthum des didymäischen Apollon
bei Milet weissagte eine Jungfrau, auf einer radförmigen Scheibe sitzend und
einen Stab in der Hand haltend, nachdem sie sich durch Trinken aus einer
heiligen Quelle begeistert hatte. Im Tempel des „Apollon an der Höhe"
zu Argos geschah die Weissagung durch eine Priesterin, die von dem Blute
des allmonatlich geopferten Schaflammes kostete. Sie mußte sich, wie es wohl
meistens der Fall war, in jungfräulicher Reinheit halten, wie auch die delphi¬
sche Pythia in ältester Zeit eine Jungfrau in der Blüthe der Jahre war. Erst
nachdem eine dieser jugendlichen Priesterinnen durch einen Liebhaber entführt
worden war, übertrug man das Amt an über fünfzig Jahre alte Frauen, die
aber stets Jungfranengewänder trugen. In Patara in Lykien wurde die
Prophetin zur Nachtzeit in den Tempel eingeschlossen und empfing dort die
Verkündigungen des Gottes. Greise Frauen verwalteten das Orakelamt in
dem altheiliger Dodom, wo Zeus sich im Rauschen der heiligen Eiche ver¬
nehmen ließ, und weissagungbegabte Frauen, die uralten Sibyllen, sind es vor¬
züglich, deren Einfluß das Alterthum vielfach anerkennt, die aber mit der
Ausbildung der Orakelstätten in ein mystisches Dunkel zurückwichen.

Auch die Neigung und Fähigkeit zu Beschwörungen und Zaubereien wird
vorzüglich dem weiblichen Geschlechte beigelegt. Ich erinnere nur an die uralte
grause Göttin Hekate, an die geheimnißvoll im Finstern wirkende Artemis, an
Persephone, Kybele, Kirke, Medea, Helena und Agcnnede, die Tochter des
Augias. Auch die Sirenen, Lamia, Empusa, die Strigen, Gelluden, Erinnyen
u. s. w. deuten auf jene Vorstellung hin. In Thessalien gab es eine ganze


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[0299] KnechWe Irauen. R. Echoen er. Antike Bilder von III. Bekannt ist die hohe Achtung, welche die weissagende Priesterin des delphi¬ schen Apollon, die Pythia, in ganz Griechenland und weit über dessen Grenzen hinaus genoß. Auf dem heiligen Dreifuß über dem dampfenden Erdspalt sitzend, ertheilte sie, in ekstatischen Rausch versetzt, den Fragenden die göttliche Auskunft und bewies dadurch, daß die Götter auch deu Mund schwacher Frauen zur Verkündigung ihrer Weisheit nicht verschmähen. Ueberhaupt hat man die Bevorzugung von Frauen und Jungfrauen für den Dienst der Orakel und der Mantik wohl auf die Vorstellung zurückzuführen, daß die Stimme des Gottes durch das schwächere Gefäß reiner hindurch donc, daß das hingebende Weib mehr als der selbständige, reflektirende Mann sich zum willenlosen Werk¬ zeug der höheren Eingebung eigne. Daher finden wir weissagende Prieste¬ rinnen an sehr vielen Orten. In dem Heiligthum des didymäischen Apollon bei Milet weissagte eine Jungfrau, auf einer radförmigen Scheibe sitzend und einen Stab in der Hand haltend, nachdem sie sich durch Trinken aus einer heiligen Quelle begeistert hatte. Im Tempel des „Apollon an der Höhe" zu Argos geschah die Weissagung durch eine Priesterin, die von dem Blute des allmonatlich geopferten Schaflammes kostete. Sie mußte sich, wie es wohl meistens der Fall war, in jungfräulicher Reinheit halten, wie auch die delphi¬ sche Pythia in ältester Zeit eine Jungfrau in der Blüthe der Jahre war. Erst nachdem eine dieser jugendlichen Priesterinnen durch einen Liebhaber entführt worden war, übertrug man das Amt an über fünfzig Jahre alte Frauen, die aber stets Jungfranengewänder trugen. In Patara in Lykien wurde die Prophetin zur Nachtzeit in den Tempel eingeschlossen und empfing dort die Verkündigungen des Gottes. Greise Frauen verwalteten das Orakelamt in dem altheiliger Dodom, wo Zeus sich im Rauschen der heiligen Eiche ver¬ nehmen ließ, und weissagungbegabte Frauen, die uralten Sibyllen, sind es vor¬ züglich, deren Einfluß das Alterthum vielfach anerkennt, die aber mit der Ausbildung der Orakelstätten in ein mystisches Dunkel zurückwichen. Auch die Neigung und Fähigkeit zu Beschwörungen und Zaubereien wird vorzüglich dem weiblichen Geschlechte beigelegt. Ich erinnere nur an die uralte grause Göttin Hekate, an die geheimnißvoll im Finstern wirkende Artemis, an Persephone, Kybele, Kirke, Medea, Helena und Agcnnede, die Tochter des Augias. Auch die Sirenen, Lamia, Empusa, die Strigen, Gelluden, Erinnyen u. s. w. deuten auf jene Vorstellung hin. In Thessalien gab es eine ganze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/299>, abgerufen am 26.05.2024.