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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Line Liebesepisode aus dem Leben Ferdinand Lassalle's.*)

Im November 1877 erschienen in einer Petersburger Revue, dem "Euro¬
päischen Boten", in russischer Sprache Tcigebuchblätter einer Russin, Frau S. S.,
welche sie während ihres Aufenthaltes im Auslande zu Anfang der sechziger
Jahre als junges Mädchen geführt hatte. Den Hauptbestandtheil dieser Er¬
innerungen bildeten Briefe und "Bekenntnisse", die Lassalle in französischer
Sprache in der Zeit vom 26. Septbr. 1860 bis zum 12. Dezbr. 1863 an die
junge, in Deutschland reisende Russin gerichtet hatte; sie waren bis dahin
auch in Deutschland völlig unbekannt. Alle diese Dokumente hatte die Heldin
der "Liebesepisode" selbst in's Russische übersetzt und aller Wahrscheinlichkeit
nach auch selbst im "Europäischen Boten" veröffentlicht. In der uns vor¬
liegenden Brochüre erhalten wir eine deutsche Uebersetzung dieser russischen
Veröffentlichung. Die bedenklich weite Entfernung dieser Übersetzung vom
Original -- man denke, daß in französischer Sprache geschriebene Briefe eines
Deutschen aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt werden mußten -- ist
"wenigstens noch nachträglich" dadurch gemildert worden, daß die französischen
Originale aus der Feder Lassalle's "zur theilweisen Berichtigung und Ergän¬
zung der Uebersetzung benutzt werden konnten, da dieselben gleichzeitig von
derselben Verlagshandlung veröffentlicht werden." Motivirt ist diese deutsche
Ausgabe der Petersburger Indiskretion durch die Behauptung, daß die hier
mitgetheilten Briefe und Bekenntnisse Lassalle's von "hervorragendsten Interesse
sind" und in demselben Satze wechselt diese Zuversicht auch noch mit der
"Hoffnung" ab "daß das Interesse, welches diese Blätter voraussichtlich bei
Freunden wie bei Gegnern Lassalle's finden werden, die Arbeit des Uebersetzers
rechtfertigen werde."

Wir haben im Folgenden zu prüfen, ob diese Zuversicht und Hoffnung
so begründet ist, wie der einst von Lassalle geliebte Gegenstand und der Ueber¬
setzer anzunehmen scheinen.

Geben wir, um dieser Prüfung näher zu treten, zunächst eine kurze, rein
thatsächliche Darstellung der hier beurkundeten "Liebesepisode."

Ein russischer Fürst oder doch höherer Adliger Namens S ... ff, der
in Witebsk wohnt, leidet im Jahre 1860 an einer langwierigen und schweren
Krankheit. Seine Tochter Sophie, 19 Jahr alt, die sich "durchaus nicht durch
besondere Schönheit auszeichnet", begleitet ihn allein auf einer Badereise, über
Warschau nach Karlsbad und zur Vollendung seiner Kur nach Aachen. Hier



*) Tagebuch, Briefwechsel, Bekenntnisse. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1873.
Grenzboten I. 1878. 1
Line Liebesepisode aus dem Leben Ferdinand Lassalle's.*)

Im November 1877 erschienen in einer Petersburger Revue, dem „Euro¬
päischen Boten", in russischer Sprache Tcigebuchblätter einer Russin, Frau S. S.,
welche sie während ihres Aufenthaltes im Auslande zu Anfang der sechziger
Jahre als junges Mädchen geführt hatte. Den Hauptbestandtheil dieser Er¬
innerungen bildeten Briefe und „Bekenntnisse", die Lassalle in französischer
Sprache in der Zeit vom 26. Septbr. 1860 bis zum 12. Dezbr. 1863 an die
junge, in Deutschland reisende Russin gerichtet hatte; sie waren bis dahin
auch in Deutschland völlig unbekannt. Alle diese Dokumente hatte die Heldin
der „Liebesepisode" selbst in's Russische übersetzt und aller Wahrscheinlichkeit
nach auch selbst im „Europäischen Boten" veröffentlicht. In der uns vor¬
liegenden Brochüre erhalten wir eine deutsche Uebersetzung dieser russischen
Veröffentlichung. Die bedenklich weite Entfernung dieser Übersetzung vom
Original — man denke, daß in französischer Sprache geschriebene Briefe eines
Deutschen aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt werden mußten — ist
„wenigstens noch nachträglich" dadurch gemildert worden, daß die französischen
Originale aus der Feder Lassalle's „zur theilweisen Berichtigung und Ergän¬
zung der Uebersetzung benutzt werden konnten, da dieselben gleichzeitig von
derselben Verlagshandlung veröffentlicht werden." Motivirt ist diese deutsche
Ausgabe der Petersburger Indiskretion durch die Behauptung, daß die hier
mitgetheilten Briefe und Bekenntnisse Lassalle's von „hervorragendsten Interesse
sind" und in demselben Satze wechselt diese Zuversicht auch noch mit der
„Hoffnung" ab „daß das Interesse, welches diese Blätter voraussichtlich bei
Freunden wie bei Gegnern Lassalle's finden werden, die Arbeit des Uebersetzers
rechtfertigen werde."

Wir haben im Folgenden zu prüfen, ob diese Zuversicht und Hoffnung
so begründet ist, wie der einst von Lassalle geliebte Gegenstand und der Ueber¬
setzer anzunehmen scheinen.

Geben wir, um dieser Prüfung näher zu treten, zunächst eine kurze, rein
thatsächliche Darstellung der hier beurkundeten „Liebesepisode."

Ein russischer Fürst oder doch höherer Adliger Namens S ... ff, der
in Witebsk wohnt, leidet im Jahre 1860 an einer langwierigen und schweren
Krankheit. Seine Tochter Sophie, 19 Jahr alt, die sich „durchaus nicht durch
besondere Schönheit auszeichnet", begleitet ihn allein auf einer Badereise, über
Warschau nach Karlsbad und zur Vollendung seiner Kur nach Aachen. Hier



*) Tagebuch, Briefwechsel, Bekenntnisse. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1873.
Grenzboten I. 1878. 1
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[0121] Line Liebesepisode aus dem Leben Ferdinand Lassalle's.*) Im November 1877 erschienen in einer Petersburger Revue, dem „Euro¬ päischen Boten", in russischer Sprache Tcigebuchblätter einer Russin, Frau S. S., welche sie während ihres Aufenthaltes im Auslande zu Anfang der sechziger Jahre als junges Mädchen geführt hatte. Den Hauptbestandtheil dieser Er¬ innerungen bildeten Briefe und „Bekenntnisse", die Lassalle in französischer Sprache in der Zeit vom 26. Septbr. 1860 bis zum 12. Dezbr. 1863 an die junge, in Deutschland reisende Russin gerichtet hatte; sie waren bis dahin auch in Deutschland völlig unbekannt. Alle diese Dokumente hatte die Heldin der „Liebesepisode" selbst in's Russische übersetzt und aller Wahrscheinlichkeit nach auch selbst im „Europäischen Boten" veröffentlicht. In der uns vor¬ liegenden Brochüre erhalten wir eine deutsche Uebersetzung dieser russischen Veröffentlichung. Die bedenklich weite Entfernung dieser Übersetzung vom Original — man denke, daß in französischer Sprache geschriebene Briefe eines Deutschen aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt werden mußten — ist „wenigstens noch nachträglich" dadurch gemildert worden, daß die französischen Originale aus der Feder Lassalle's „zur theilweisen Berichtigung und Ergän¬ zung der Uebersetzung benutzt werden konnten, da dieselben gleichzeitig von derselben Verlagshandlung veröffentlicht werden." Motivirt ist diese deutsche Ausgabe der Petersburger Indiskretion durch die Behauptung, daß die hier mitgetheilten Briefe und Bekenntnisse Lassalle's von „hervorragendsten Interesse sind" und in demselben Satze wechselt diese Zuversicht auch noch mit der „Hoffnung" ab „daß das Interesse, welches diese Blätter voraussichtlich bei Freunden wie bei Gegnern Lassalle's finden werden, die Arbeit des Uebersetzers rechtfertigen werde." Wir haben im Folgenden zu prüfen, ob diese Zuversicht und Hoffnung so begründet ist, wie der einst von Lassalle geliebte Gegenstand und der Ueber¬ setzer anzunehmen scheinen. Geben wir, um dieser Prüfung näher zu treten, zunächst eine kurze, rein thatsächliche Darstellung der hier beurkundeten „Liebesepisode." Ein russischer Fürst oder doch höherer Adliger Namens S ... ff, der in Witebsk wohnt, leidet im Jahre 1860 an einer langwierigen und schweren Krankheit. Seine Tochter Sophie, 19 Jahr alt, die sich „durchaus nicht durch besondere Schönheit auszeichnet", begleitet ihn allein auf einer Badereise, über Warschau nach Karlsbad und zur Vollendung seiner Kur nach Aachen. Hier *) Tagebuch, Briefwechsel, Bekenntnisse. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1873. Grenzboten I. 1878. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/121>, abgerufen am 29.04.2024.