Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Dom deutschen Keichstage.

Große Rührigkeit läßt sich der zweiten Woche der Reichtagssession nicht
nachrühmen. Weder die Rechtsanwaltsordnung noch das Budget vermochten die
allgemeine Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich zu ziehen. Die großen Fragen,
auf welche alles Sinnen und Trachten dermalen fast ausschließlich gerichtet
ist -- Orient, Reichsorganisation, Steuerreform -- gelangen ja erst später
auf die Tagesordnung. Immerhin sind es Gegenstände von tiefgreifendster
Bedeutung, mit denen man sich zu beschäftigen hatte. Was die Anwalts¬
ordnung betrifft, so hatte bekanntlich die Justizkommission des Reichstages
seiner Zeit dem Gerichtsverfassungsgesetze eiuen entsprechenden Abschnitt einge¬
fügt, auf den man jedoch gegenüber der bündigen Zusage der Regierungen,
daß die Materie noch vor dem Inkrafttreten der Justizresorm durch ein be¬
sonderes Gesetz geregelt werden solle, verzichtete. Man darf an dem jetzt von
den Regierungen vorgelegten Gesetzentwurfe anerkennen, daß er mit den Vor¬
schlägen der erwähnten Kommission jedenfalls weit mehr übereinstimmt, als
die pessimistischen Widersacher des Kompromisses über die Justizgesetzgebung
vor Jahr und Tag prophezeiten. Eine wirklich prinzipielle Bekämpfung hat
denn auch die Vorlage in der ersten Berathung nicht erfahren, womit freilich
nicht gesagt sein soll, daß es an erheblichen Ausstellungen gemangelt Mlle.
Die vielumstrittenen Fragen der Freigebung und der Lokalisirung der Rechts¬
anwaltschaft standen in der Debatte naturgemäß im Vordergrunde. Für voll¬
ständige Freigebung plaidirte nur der Führer des Zentrums, Herr Windthorst.
Aber auch von anderer Seite erfuhr das in der Vorlage adoptirte System
lebhafte Angriffe. Der Regierungsentwurf bestimmt, daß, wer die Fähigkeit
zum Richteramt in einem Bundesstaat erlangt hat, in jedem Bundesstaate zur
Rechtsanwaltschaft zugelassen werden kann. Ueber den Antrag auf Zulassung
soll die Landesjustizverwaltung entscheiden, vor der Entscheidung jedoch der
Vorstand der Anwaltskammer gutachtlich gehört werden. Die hier der Landes¬
justizverwaltung eingeräumte diskretionäre Befugniß wird freilich beschränkt
durch die weitere Bestimmung, daß, wer die zum Richteramte befähigende
Prüfung bestanden hat, bei den Gerichten des Bundesstaates in welchem die
Prüfung bestanden ist, zur Rechtsanwaltschaft zugelassen werden muß, so¬
fern er diese Zulassung binnen einem Jahre nach bestandener Prüfung bean¬
tragt. Dieses Recht soll jedoch nicht allein erlöschen, wenn der Antragsteller
im Staatsdienst angestellt worden ist, sondern die Zulassung soll auch, solange


Dom deutschen Keichstage.

Große Rührigkeit läßt sich der zweiten Woche der Reichtagssession nicht
nachrühmen. Weder die Rechtsanwaltsordnung noch das Budget vermochten die
allgemeine Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich zu ziehen. Die großen Fragen,
auf welche alles Sinnen und Trachten dermalen fast ausschließlich gerichtet
ist — Orient, Reichsorganisation, Steuerreform — gelangen ja erst später
auf die Tagesordnung. Immerhin sind es Gegenstände von tiefgreifendster
Bedeutung, mit denen man sich zu beschäftigen hatte. Was die Anwalts¬
ordnung betrifft, so hatte bekanntlich die Justizkommission des Reichstages
seiner Zeit dem Gerichtsverfassungsgesetze eiuen entsprechenden Abschnitt einge¬
fügt, auf den man jedoch gegenüber der bündigen Zusage der Regierungen,
daß die Materie noch vor dem Inkrafttreten der Justizresorm durch ein be¬
sonderes Gesetz geregelt werden solle, verzichtete. Man darf an dem jetzt von
den Regierungen vorgelegten Gesetzentwurfe anerkennen, daß er mit den Vor¬
schlägen der erwähnten Kommission jedenfalls weit mehr übereinstimmt, als
die pessimistischen Widersacher des Kompromisses über die Justizgesetzgebung
vor Jahr und Tag prophezeiten. Eine wirklich prinzipielle Bekämpfung hat
denn auch die Vorlage in der ersten Berathung nicht erfahren, womit freilich
nicht gesagt sein soll, daß es an erheblichen Ausstellungen gemangelt Mlle.
Die vielumstrittenen Fragen der Freigebung und der Lokalisirung der Rechts¬
anwaltschaft standen in der Debatte naturgemäß im Vordergrunde. Für voll¬
ständige Freigebung plaidirte nur der Führer des Zentrums, Herr Windthorst.
Aber auch von anderer Seite erfuhr das in der Vorlage adoptirte System
lebhafte Angriffe. Der Regierungsentwurf bestimmt, daß, wer die Fähigkeit
zum Richteramt in einem Bundesstaat erlangt hat, in jedem Bundesstaate zur
Rechtsanwaltschaft zugelassen werden kann. Ueber den Antrag auf Zulassung
soll die Landesjustizverwaltung entscheiden, vor der Entscheidung jedoch der
Vorstand der Anwaltskammer gutachtlich gehört werden. Die hier der Landes¬
justizverwaltung eingeräumte diskretionäre Befugniß wird freilich beschränkt
durch die weitere Bestimmung, daß, wer die zum Richteramte befähigende
Prüfung bestanden hat, bei den Gerichten des Bundesstaates in welchem die
Prüfung bestanden ist, zur Rechtsanwaltschaft zugelassen werden muß, so¬
fern er diese Zulassung binnen einem Jahre nach bestandener Prüfung bean¬
tragt. Dieses Recht soll jedoch nicht allein erlöschen, wenn der Antragsteller
im Staatsdienst angestellt worden ist, sondern die Zulassung soll auch, solange


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0354" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139647"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Dom deutschen Keichstage.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1020" next="#ID_1021"> Große Rührigkeit läßt sich der zweiten Woche der Reichtagssession nicht<lb/>
nachrühmen. Weder die Rechtsanwaltsordnung noch das Budget vermochten die<lb/>
allgemeine Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich zu ziehen. Die großen Fragen,<lb/>
auf welche alles Sinnen und Trachten dermalen fast ausschließlich gerichtet<lb/>
ist &#x2014; Orient, Reichsorganisation, Steuerreform &#x2014; gelangen ja erst später<lb/>
auf die Tagesordnung. Immerhin sind es Gegenstände von tiefgreifendster<lb/>
Bedeutung, mit denen man sich zu beschäftigen hatte. Was die Anwalts¬<lb/>
ordnung betrifft, so hatte bekanntlich die Justizkommission des Reichstages<lb/>
seiner Zeit dem Gerichtsverfassungsgesetze eiuen entsprechenden Abschnitt einge¬<lb/>
fügt, auf den man jedoch gegenüber der bündigen Zusage der Regierungen,<lb/>
daß die Materie noch vor dem Inkrafttreten der Justizresorm durch ein be¬<lb/>
sonderes Gesetz geregelt werden solle, verzichtete. Man darf an dem jetzt von<lb/>
den Regierungen vorgelegten Gesetzentwurfe anerkennen, daß er mit den Vor¬<lb/>
schlägen der erwähnten Kommission jedenfalls weit mehr übereinstimmt, als<lb/>
die pessimistischen Widersacher des Kompromisses über die Justizgesetzgebung<lb/>
vor Jahr und Tag prophezeiten. Eine wirklich prinzipielle Bekämpfung hat<lb/>
denn auch die Vorlage in der ersten Berathung nicht erfahren, womit freilich<lb/>
nicht gesagt sein soll, daß es an erheblichen Ausstellungen gemangelt Mlle.<lb/>
Die vielumstrittenen Fragen der Freigebung und der Lokalisirung der Rechts¬<lb/>
anwaltschaft standen in der Debatte naturgemäß im Vordergrunde. Für voll¬<lb/>
ständige Freigebung plaidirte nur der Führer des Zentrums, Herr Windthorst.<lb/>
Aber auch von anderer Seite erfuhr das in der Vorlage adoptirte System<lb/>
lebhafte Angriffe. Der Regierungsentwurf bestimmt, daß, wer die Fähigkeit<lb/>
zum Richteramt in einem Bundesstaat erlangt hat, in jedem Bundesstaate zur<lb/>
Rechtsanwaltschaft zugelassen werden kann. Ueber den Antrag auf Zulassung<lb/>
soll die Landesjustizverwaltung entscheiden, vor der Entscheidung jedoch der<lb/>
Vorstand der Anwaltskammer gutachtlich gehört werden. Die hier der Landes¬<lb/>
justizverwaltung eingeräumte diskretionäre Befugniß wird freilich beschränkt<lb/>
durch die weitere Bestimmung, daß, wer die zum Richteramte befähigende<lb/>
Prüfung bestanden hat, bei den Gerichten des Bundesstaates in welchem die<lb/>
Prüfung bestanden ist, zur Rechtsanwaltschaft zugelassen werden muß, so¬<lb/>
fern er diese Zulassung binnen einem Jahre nach bestandener Prüfung bean¬<lb/>
tragt. Dieses Recht soll jedoch nicht allein erlöschen, wenn der Antragsteller<lb/>
im Staatsdienst angestellt worden ist, sondern die Zulassung soll auch, solange</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0354] Dom deutschen Keichstage. Große Rührigkeit läßt sich der zweiten Woche der Reichtagssession nicht nachrühmen. Weder die Rechtsanwaltsordnung noch das Budget vermochten die allgemeine Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich zu ziehen. Die großen Fragen, auf welche alles Sinnen und Trachten dermalen fast ausschließlich gerichtet ist — Orient, Reichsorganisation, Steuerreform — gelangen ja erst später auf die Tagesordnung. Immerhin sind es Gegenstände von tiefgreifendster Bedeutung, mit denen man sich zu beschäftigen hatte. Was die Anwalts¬ ordnung betrifft, so hatte bekanntlich die Justizkommission des Reichstages seiner Zeit dem Gerichtsverfassungsgesetze eiuen entsprechenden Abschnitt einge¬ fügt, auf den man jedoch gegenüber der bündigen Zusage der Regierungen, daß die Materie noch vor dem Inkrafttreten der Justizresorm durch ein be¬ sonderes Gesetz geregelt werden solle, verzichtete. Man darf an dem jetzt von den Regierungen vorgelegten Gesetzentwurfe anerkennen, daß er mit den Vor¬ schlägen der erwähnten Kommission jedenfalls weit mehr übereinstimmt, als die pessimistischen Widersacher des Kompromisses über die Justizgesetzgebung vor Jahr und Tag prophezeiten. Eine wirklich prinzipielle Bekämpfung hat denn auch die Vorlage in der ersten Berathung nicht erfahren, womit freilich nicht gesagt sein soll, daß es an erheblichen Ausstellungen gemangelt Mlle. Die vielumstrittenen Fragen der Freigebung und der Lokalisirung der Rechts¬ anwaltschaft standen in der Debatte naturgemäß im Vordergrunde. Für voll¬ ständige Freigebung plaidirte nur der Führer des Zentrums, Herr Windthorst. Aber auch von anderer Seite erfuhr das in der Vorlage adoptirte System lebhafte Angriffe. Der Regierungsentwurf bestimmt, daß, wer die Fähigkeit zum Richteramt in einem Bundesstaat erlangt hat, in jedem Bundesstaate zur Rechtsanwaltschaft zugelassen werden kann. Ueber den Antrag auf Zulassung soll die Landesjustizverwaltung entscheiden, vor der Entscheidung jedoch der Vorstand der Anwaltskammer gutachtlich gehört werden. Die hier der Landes¬ justizverwaltung eingeräumte diskretionäre Befugniß wird freilich beschränkt durch die weitere Bestimmung, daß, wer die zum Richteramte befähigende Prüfung bestanden hat, bei den Gerichten des Bundesstaates in welchem die Prüfung bestanden ist, zur Rechtsanwaltschaft zugelassen werden muß, so¬ fern er diese Zulassung binnen einem Jahre nach bestandener Prüfung bean¬ tragt. Dieses Recht soll jedoch nicht allein erlöschen, wenn der Antragsteller im Staatsdienst angestellt worden ist, sondern die Zulassung soll auch, solange

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/354
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/354>, abgerufen am 29.04.2024.