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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Die vierte Woche des preussischen Landtags.

In dieser Woche hat sich eine Reihe bemerkenswerther Verhandlungen des
Abgeordnetenhauses über wichtigere Angelegenheiten zusammengedrängt. Gleich
der Montag brachte die schon in vorhergehender Woche angekündigte Bespre¬
chung der Sozialisten-Verordnung. Der Vorschrift des Sozialistengesetzes, daß
die Rechenschaft über seine Ausführung dem Reichstage zu geben sei, lag die
Absicht zu Grunde, zur Vermeidung sich widersprechender Beschlüsse die Kon¬
kurrenz der Landesvertretungen in dieser Beziehung zu vermeiden. Gleichwohl
erschien eine Erörterung der die theilweise Verhängung des sogenannten kleinen
Belagerungszustandes über Berlin und Umgegend aussprechenden Verordnung
des Staatsministeriums vom 28. November angemessen, jedoch nur, damit sich
aus regierungsseitigen Erklärungen entnehmen lasse, ob den geglaubten Ge¬
rüchten über neue drohend gewesene staatsverbrecherische Vorgänge etwas zu
Grunde gelegen habe. Hatten wirklich über Berlin Bomben wie neulich zu
Florenz in der Luft geschwebt, und waren durch Umsicht der Behörden Ge¬
fahren beseitigt, an deren Abgrund das Publikum ahnungslos gewandelt, so
würde dieses die Verordnung doppelt gerechtfertigt gehalten haben; jedenfalls
schien es, nach Lage der Dinge, einen Anspruch zu haben, anstatt in acht
Wochen durch den Reichstag, schon jetzt durch Vermittelung des Landtags über
etwa weitere Fortschritte des Uebels aufgeklärt zu werden. Die Debatten vom
9. Dezember haben über diesen Punkt Beruhigung gebracht.

Nach den Erklärungen, welche bei weiterer Berathung des Etats des
Ministeriums des Innern Graf Eulenburg auf Anregung Virchow's gab. stand
fest, daß nicht gerade ein solch' schwebendes Schreckniß die Verordnung veran¬
laßt hat. Der präzise, korrekte und elegante Vortrag des Ministers bewies,
daß der Grund nur in der schweren Verantwortlichkeit lag, in welcher sich die
Regierung im Hinblick auf den ganzen Stand der Sozialistenfrage nach begon¬
nener Ausführung des Reichsgesetzes und nach traurigen Vor gangen in anderen
Ländern, zumal bei der bevorstehenden Rückkehr des Kaisers befand. Diese
allgemeinen Gründe, verstärkt durch die in Berlin begonnene geheime Neuor¬
ganisation der Sozialdemokraten, schien denn auch so einleuchtend, daß Virchow
alsbald gestand, er würde in gleicher Lage ebenso gehandelt haben. Mit jener
Eröffnung hätte daher füglich die Sache beendet sein können. Das war aber
durchaus nicht die Absicht der Fortschrittspartei. Es hieße anch eine Ver¬
leugnung ihres ganzen Wesens, wenn sie solche Gelegenheit, ohne sachlichen
Nutzen nach allen Seiten hin Malicen zu sagen, hätte vorbeigehen lassen. Sie
sandte ihre drei größten Helden vor: anßer Virchow noch Richter und Hänel.


Grenzboten IV. 1873. 60
Die vierte Woche des preussischen Landtags.

In dieser Woche hat sich eine Reihe bemerkenswerther Verhandlungen des
Abgeordnetenhauses über wichtigere Angelegenheiten zusammengedrängt. Gleich
der Montag brachte die schon in vorhergehender Woche angekündigte Bespre¬
chung der Sozialisten-Verordnung. Der Vorschrift des Sozialistengesetzes, daß
die Rechenschaft über seine Ausführung dem Reichstage zu geben sei, lag die
Absicht zu Grunde, zur Vermeidung sich widersprechender Beschlüsse die Kon¬
kurrenz der Landesvertretungen in dieser Beziehung zu vermeiden. Gleichwohl
erschien eine Erörterung der die theilweise Verhängung des sogenannten kleinen
Belagerungszustandes über Berlin und Umgegend aussprechenden Verordnung
des Staatsministeriums vom 28. November angemessen, jedoch nur, damit sich
aus regierungsseitigen Erklärungen entnehmen lasse, ob den geglaubten Ge¬
rüchten über neue drohend gewesene staatsverbrecherische Vorgänge etwas zu
Grunde gelegen habe. Hatten wirklich über Berlin Bomben wie neulich zu
Florenz in der Luft geschwebt, und waren durch Umsicht der Behörden Ge¬
fahren beseitigt, an deren Abgrund das Publikum ahnungslos gewandelt, so
würde dieses die Verordnung doppelt gerechtfertigt gehalten haben; jedenfalls
schien es, nach Lage der Dinge, einen Anspruch zu haben, anstatt in acht
Wochen durch den Reichstag, schon jetzt durch Vermittelung des Landtags über
etwa weitere Fortschritte des Uebels aufgeklärt zu werden. Die Debatten vom
9. Dezember haben über diesen Punkt Beruhigung gebracht.

Nach den Erklärungen, welche bei weiterer Berathung des Etats des
Ministeriums des Innern Graf Eulenburg auf Anregung Virchow's gab. stand
fest, daß nicht gerade ein solch' schwebendes Schreckniß die Verordnung veran¬
laßt hat. Der präzise, korrekte und elegante Vortrag des Ministers bewies,
daß der Grund nur in der schweren Verantwortlichkeit lag, in welcher sich die
Regierung im Hinblick auf den ganzen Stand der Sozialistenfrage nach begon¬
nener Ausführung des Reichsgesetzes und nach traurigen Vor gangen in anderen
Ländern, zumal bei der bevorstehenden Rückkehr des Kaisers befand. Diese
allgemeinen Gründe, verstärkt durch die in Berlin begonnene geheime Neuor¬
ganisation der Sozialdemokraten, schien denn auch so einleuchtend, daß Virchow
alsbald gestand, er würde in gleicher Lage ebenso gehandelt haben. Mit jener
Eröffnung hätte daher füglich die Sache beendet sein können. Das war aber
durchaus nicht die Absicht der Fortschrittspartei. Es hieße anch eine Ver¬
leugnung ihres ganzen Wesens, wenn sie solche Gelegenheit, ohne sachlichen
Nutzen nach allen Seiten hin Malicen zu sagen, hätte vorbeigehen lassen. Sie
sandte ihre drei größten Helden vor: anßer Virchow noch Richter und Hänel.


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[0477] Die vierte Woche des preussischen Landtags. In dieser Woche hat sich eine Reihe bemerkenswerther Verhandlungen des Abgeordnetenhauses über wichtigere Angelegenheiten zusammengedrängt. Gleich der Montag brachte die schon in vorhergehender Woche angekündigte Bespre¬ chung der Sozialisten-Verordnung. Der Vorschrift des Sozialistengesetzes, daß die Rechenschaft über seine Ausführung dem Reichstage zu geben sei, lag die Absicht zu Grunde, zur Vermeidung sich widersprechender Beschlüsse die Kon¬ kurrenz der Landesvertretungen in dieser Beziehung zu vermeiden. Gleichwohl erschien eine Erörterung der die theilweise Verhängung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes über Berlin und Umgegend aussprechenden Verordnung des Staatsministeriums vom 28. November angemessen, jedoch nur, damit sich aus regierungsseitigen Erklärungen entnehmen lasse, ob den geglaubten Ge¬ rüchten über neue drohend gewesene staatsverbrecherische Vorgänge etwas zu Grunde gelegen habe. Hatten wirklich über Berlin Bomben wie neulich zu Florenz in der Luft geschwebt, und waren durch Umsicht der Behörden Ge¬ fahren beseitigt, an deren Abgrund das Publikum ahnungslos gewandelt, so würde dieses die Verordnung doppelt gerechtfertigt gehalten haben; jedenfalls schien es, nach Lage der Dinge, einen Anspruch zu haben, anstatt in acht Wochen durch den Reichstag, schon jetzt durch Vermittelung des Landtags über etwa weitere Fortschritte des Uebels aufgeklärt zu werden. Die Debatten vom 9. Dezember haben über diesen Punkt Beruhigung gebracht. Nach den Erklärungen, welche bei weiterer Berathung des Etats des Ministeriums des Innern Graf Eulenburg auf Anregung Virchow's gab. stand fest, daß nicht gerade ein solch' schwebendes Schreckniß die Verordnung veran¬ laßt hat. Der präzise, korrekte und elegante Vortrag des Ministers bewies, daß der Grund nur in der schweren Verantwortlichkeit lag, in welcher sich die Regierung im Hinblick auf den ganzen Stand der Sozialistenfrage nach begon¬ nener Ausführung des Reichsgesetzes und nach traurigen Vor gangen in anderen Ländern, zumal bei der bevorstehenden Rückkehr des Kaisers befand. Diese allgemeinen Gründe, verstärkt durch die in Berlin begonnene geheime Neuor¬ ganisation der Sozialdemokraten, schien denn auch so einleuchtend, daß Virchow alsbald gestand, er würde in gleicher Lage ebenso gehandelt haben. Mit jener Eröffnung hätte daher füglich die Sache beendet sein können. Das war aber durchaus nicht die Absicht der Fortschrittspartei. Es hieße anch eine Ver¬ leugnung ihres ganzen Wesens, wenn sie solche Gelegenheit, ohne sachlichen Nutzen nach allen Seiten hin Malicen zu sagen, hätte vorbeigehen lassen. Sie sandte ihre drei größten Helden vor: anßer Virchow noch Richter und Hänel. Grenzboten IV. 1873. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/477>, abgerufen am 29.04.2024.