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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Mischungen. Mohammedanischen Ursprungs sind die Verachtung des Schweins,
die Feier des Freitags, das Rasiren des Kopfes, die leichte Lösbarkeit der Ehe
und gelegentliche Vielweiberei. Dem Christenthum entlehnt sind die bis fast
zur Unkenntlichkeit entstellten Gebete der Dekanosse (Priester), die Verehrung
des Kreuzes, die Erwähnung von Petrus und Paulus, die Anerkennung einiger
Heiligen. Da aber viele alte Götter noch bei ihnen lebendig sind, so kann
man die Chewsuren kaum zu den Monotheisten rechnen. Auf das Heidenthum
müssen vor allem die Opferaltäre, die Verehrung heiliger Haine, von den ver¬
schiedenen Göttern zurückgeführt werden. Vollständig beherrscht und nach
eigenem Gutdünken geleitet werden die religiösen Ueberzeugungen und alle aus
ihnen entspringenden Handlungen durch eine geschlossene Priesterkaste, die eine
vollständige Hierarchie bildet. Zu den Obliegenheiten dieser Priester gehört
unter Anderem das Aufmachen des gebrauten Bieres zum Feste, welches in
verdeckten Bottichen in den heiligen Brauereien steht, und die Befreiung der
Kranken vom Teufel, wobei vollständig nach Art der sibirischen Schamanen
oder der nordamerikanischen Medizinmänner verfahren wird.

Jedes Verbrechen bei den Chewsuren kann vollständig durch Bezahlung
gesühnt werden, und als Einheit bei der Bezahlung gilt der Preis einer Kuh,
die 7 bis 10 Rubel werthet. Fragt man, wie viel kostet eine Stute? so lautet
die Antwort "vier Kühe". Was kostet ein Gewehr? "Zwanzig Kühe". Die
größte Strafe fällt auf den Mord, der in Folge von Blutrache ausgeübt wurde.
Zwar ist moralisch nach den Anschauungen der Chewsuren derselbe nicht allein
gebilligt, sondern geboten, doch wird er juridisch aufs Strengste verfolgt. Die
Folgen der Blutrache sind unabsehbare, und nach Radde ist die ganze Land¬
schaft unter sich und mit den Nachbarn der Blutrache verfallen. Daher geht
auch der Ackersmann hinter dem Pfluge im vollen Waffenschmuck einher; viel¬
leicht hat er selbst Niemanden getödtet, aber er erbte die Blutrache von seineu
Vorfahren. Bei Radde findet sich auch eine Taxe, wie die verschiedenen Ver¬
gehen gesühnt werden. Man zahlt für beigebrachte Wunden je nach der Größe
und der Waffe 5 bis 25 Kühe, für Verstümmelung des Daumens 5, des kleinen
Fingers 1 Kuh u. s, w. Nachgewiesener Diebstahl wird mit dem siebenfachen
Werthe des gestohlenen Objektes bestraft.

Das Volk, über welches wir durch Radde's fleißige Schrift zum ersten
Male Kenntniß erhalten, wohnt nur fünfzehn Meilen von der kaukasischen
Hauptstadt Tiflis entfernt. Man sieht daraus, wie Rußland's Macht hier sich
nur äußerlich Anerkennung verschaffen konnte und mit den geringen Steuern
fürlieb nehmen muß. Im Uebrigen regieren sich diese Völker selbst und be¬
stehen, im Rahmen des europäischen Rußland, fort nach der alten Weise ihrer
R. Väter.




Mischungen. Mohammedanischen Ursprungs sind die Verachtung des Schweins,
die Feier des Freitags, das Rasiren des Kopfes, die leichte Lösbarkeit der Ehe
und gelegentliche Vielweiberei. Dem Christenthum entlehnt sind die bis fast
zur Unkenntlichkeit entstellten Gebete der Dekanosse (Priester), die Verehrung
des Kreuzes, die Erwähnung von Petrus und Paulus, die Anerkennung einiger
Heiligen. Da aber viele alte Götter noch bei ihnen lebendig sind, so kann
man die Chewsuren kaum zu den Monotheisten rechnen. Auf das Heidenthum
müssen vor allem die Opferaltäre, die Verehrung heiliger Haine, von den ver¬
schiedenen Göttern zurückgeführt werden. Vollständig beherrscht und nach
eigenem Gutdünken geleitet werden die religiösen Ueberzeugungen und alle aus
ihnen entspringenden Handlungen durch eine geschlossene Priesterkaste, die eine
vollständige Hierarchie bildet. Zu den Obliegenheiten dieser Priester gehört
unter Anderem das Aufmachen des gebrauten Bieres zum Feste, welches in
verdeckten Bottichen in den heiligen Brauereien steht, und die Befreiung der
Kranken vom Teufel, wobei vollständig nach Art der sibirischen Schamanen
oder der nordamerikanischen Medizinmänner verfahren wird.

Jedes Verbrechen bei den Chewsuren kann vollständig durch Bezahlung
gesühnt werden, und als Einheit bei der Bezahlung gilt der Preis einer Kuh,
die 7 bis 10 Rubel werthet. Fragt man, wie viel kostet eine Stute? so lautet
die Antwort „vier Kühe". Was kostet ein Gewehr? „Zwanzig Kühe". Die
größte Strafe fällt auf den Mord, der in Folge von Blutrache ausgeübt wurde.
Zwar ist moralisch nach den Anschauungen der Chewsuren derselbe nicht allein
gebilligt, sondern geboten, doch wird er juridisch aufs Strengste verfolgt. Die
Folgen der Blutrache sind unabsehbare, und nach Radde ist die ganze Land¬
schaft unter sich und mit den Nachbarn der Blutrache verfallen. Daher geht
auch der Ackersmann hinter dem Pfluge im vollen Waffenschmuck einher; viel¬
leicht hat er selbst Niemanden getödtet, aber er erbte die Blutrache von seineu
Vorfahren. Bei Radde findet sich auch eine Taxe, wie die verschiedenen Ver¬
gehen gesühnt werden. Man zahlt für beigebrachte Wunden je nach der Größe
und der Waffe 5 bis 25 Kühe, für Verstümmelung des Daumens 5, des kleinen
Fingers 1 Kuh u. s, w. Nachgewiesener Diebstahl wird mit dem siebenfachen
Werthe des gestohlenen Objektes bestraft.

Das Volk, über welches wir durch Radde's fleißige Schrift zum ersten
Male Kenntniß erhalten, wohnt nur fünfzehn Meilen von der kaukasischen
Hauptstadt Tiflis entfernt. Man sieht daraus, wie Rußland's Macht hier sich
nur äußerlich Anerkennung verschaffen konnte und mit den geringen Steuern
fürlieb nehmen muß. Im Uebrigen regieren sich diese Völker selbst und be¬
stehen, im Rahmen des europäischen Rußland, fort nach der alten Weise ihrer
R. Väter.




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[0476] Mischungen. Mohammedanischen Ursprungs sind die Verachtung des Schweins, die Feier des Freitags, das Rasiren des Kopfes, die leichte Lösbarkeit der Ehe und gelegentliche Vielweiberei. Dem Christenthum entlehnt sind die bis fast zur Unkenntlichkeit entstellten Gebete der Dekanosse (Priester), die Verehrung des Kreuzes, die Erwähnung von Petrus und Paulus, die Anerkennung einiger Heiligen. Da aber viele alte Götter noch bei ihnen lebendig sind, so kann man die Chewsuren kaum zu den Monotheisten rechnen. Auf das Heidenthum müssen vor allem die Opferaltäre, die Verehrung heiliger Haine, von den ver¬ schiedenen Göttern zurückgeführt werden. Vollständig beherrscht und nach eigenem Gutdünken geleitet werden die religiösen Ueberzeugungen und alle aus ihnen entspringenden Handlungen durch eine geschlossene Priesterkaste, die eine vollständige Hierarchie bildet. Zu den Obliegenheiten dieser Priester gehört unter Anderem das Aufmachen des gebrauten Bieres zum Feste, welches in verdeckten Bottichen in den heiligen Brauereien steht, und die Befreiung der Kranken vom Teufel, wobei vollständig nach Art der sibirischen Schamanen oder der nordamerikanischen Medizinmänner verfahren wird. Jedes Verbrechen bei den Chewsuren kann vollständig durch Bezahlung gesühnt werden, und als Einheit bei der Bezahlung gilt der Preis einer Kuh, die 7 bis 10 Rubel werthet. Fragt man, wie viel kostet eine Stute? so lautet die Antwort „vier Kühe". Was kostet ein Gewehr? „Zwanzig Kühe". Die größte Strafe fällt auf den Mord, der in Folge von Blutrache ausgeübt wurde. Zwar ist moralisch nach den Anschauungen der Chewsuren derselbe nicht allein gebilligt, sondern geboten, doch wird er juridisch aufs Strengste verfolgt. Die Folgen der Blutrache sind unabsehbare, und nach Radde ist die ganze Land¬ schaft unter sich und mit den Nachbarn der Blutrache verfallen. Daher geht auch der Ackersmann hinter dem Pfluge im vollen Waffenschmuck einher; viel¬ leicht hat er selbst Niemanden getödtet, aber er erbte die Blutrache von seineu Vorfahren. Bei Radde findet sich auch eine Taxe, wie die verschiedenen Ver¬ gehen gesühnt werden. Man zahlt für beigebrachte Wunden je nach der Größe und der Waffe 5 bis 25 Kühe, für Verstümmelung des Daumens 5, des kleinen Fingers 1 Kuh u. s, w. Nachgewiesener Diebstahl wird mit dem siebenfachen Werthe des gestohlenen Objektes bestraft. Das Volk, über welches wir durch Radde's fleißige Schrift zum ersten Male Kenntniß erhalten, wohnt nur fünfzehn Meilen von der kaukasischen Hauptstadt Tiflis entfernt. Man sieht daraus, wie Rußland's Macht hier sich nur äußerlich Anerkennung verschaffen konnte und mit den geringen Steuern fürlieb nehmen muß. Im Uebrigen regieren sich diese Völker selbst und be¬ stehen, im Rahmen des europäischen Rußland, fort nach der alten Weise ihrer R. Väter.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/476>, abgerufen am 15.05.2024.