Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Vermochte ersterer dem Minister nichts direkt anzuhaben, so suchte er ihm
wenigstens durch heftige Anklage gegen dessen Oheim und Vorgänger empfind¬
lich beizukommen. Richtig ist, daß die skandalösen Aufzüge der Berliner
Sozialdemokraten, gegen welche die Polizei nicht einschritt, unter des letzteren
Amtsführung fielen; es war aber ein starkes Stück, diesem vorzuwerfen, solcher
Art die Sozialdemokratie großgezogen zu haben. Ganz richtig wies Graf
Bethusy darauf hin, daß damals und überhaupt seit langer Zeit die Fort¬
schrittler über Uebergriffe der Polizei geklagt. Er hätte auch geradezu sagen
können, daß letztere eben dadurch kopfscheu geworden war. Vor allem aber
hätte vom Minister, welcher den Angriff auf seinen Oheim ruhig hinnahm,
erwidert werden können, daß gerade dieser als der Erste am eindringlichsten vor
der Sozialdemokratie gewarnt hat. Es geschah dies am 28. Januar 1876 im
Reichstage bei Berathung der Strafgesetznovelle; die Bestimmung des § 130
war ganz besonders auf die Sozialdemokraten gemünzt, der Reichstag war
aber blind gegen die Gefahr, so lebhaft sie Eulenburg auch schilderte, und ver¬
warf den Artikel, den er unbedingt für Kautschuk hielt. Der Grund, warum
Virchow den Spieß umdrehte, zeigte sich bald: er kann es dem vorigen Minister
des Innern nicht vergessen, daß derselbe die Gefährlichkeit des wüsten Nörgel¬
systems der Fortschrittler richtig erkannt, so bezeichnet und als die Vorfrucht
jenes Uebels bekämpft hatte. Nun höhnt der Professor diese Bekämpfung,
durch welche nur Schlimmeres bewirkt sei. Auch die "schlechte Politik" des
Kanzlers soll, nach Virchow, die Sozialdemokratie verschuldet haben. Hierauf
wurde ihm jedoch eine Antwort zu Theil, die ihm schon bei vielen früheren
Anlässen hätte gegeben werden sollen: er kann es eben, bemerkte Bethusy tref¬
fend, noch immer nicht verwinden, daß Bismarck die Einheit Deutschland's nicht
nach der Fayon des Fortschritts, sondern auf die einzig mögliche Art bewirkt
hat. Bei seiner ferneren umständlichen Wiederholung der zur Genüge im
Reichstag besprochenen Gesichtspunkte suchte Virchow die Nationalliberalen
durch die gesuchtesten Spitzfindigkeiten zu reizen. Welche Verwirrung kann der
Mann ferner im Lande anrichten durch die Insinuation, daß der Minister kein
Material habe, um die Ausgewiesenen der Billigung des Königsmords zu zeihen!
Als ob je solch' direkter Zusammenhang behauptet wäre! Welche Ermuthigung
endlich für die Sozialdemokraten, das Mitleid für sich angeregt zu sehen durch
die Insinuation, daß man sie härter als die Jesuiten behandele und erst von
einem Orte zum andern Hetzen werde, bevor man sie aus dem Lande jage.
Die Häupter, welche den Sozialdemokraten in Berlin verloren gingen, scheinen
ihnen durch diesen Protektor wieder etwas ersetzt.

Indem wir uns mit Widerwillen von diesem Bilde abwenden, sehen wir
auf der Tribüne Herrn von Ludwig erscheinen. Derselbe, ein wunderbares


Vermochte ersterer dem Minister nichts direkt anzuhaben, so suchte er ihm
wenigstens durch heftige Anklage gegen dessen Oheim und Vorgänger empfind¬
lich beizukommen. Richtig ist, daß die skandalösen Aufzüge der Berliner
Sozialdemokraten, gegen welche die Polizei nicht einschritt, unter des letzteren
Amtsführung fielen; es war aber ein starkes Stück, diesem vorzuwerfen, solcher
Art die Sozialdemokratie großgezogen zu haben. Ganz richtig wies Graf
Bethusy darauf hin, daß damals und überhaupt seit langer Zeit die Fort¬
schrittler über Uebergriffe der Polizei geklagt. Er hätte auch geradezu sagen
können, daß letztere eben dadurch kopfscheu geworden war. Vor allem aber
hätte vom Minister, welcher den Angriff auf seinen Oheim ruhig hinnahm,
erwidert werden können, daß gerade dieser als der Erste am eindringlichsten vor
der Sozialdemokratie gewarnt hat. Es geschah dies am 28. Januar 1876 im
Reichstage bei Berathung der Strafgesetznovelle; die Bestimmung des § 130
war ganz besonders auf die Sozialdemokraten gemünzt, der Reichstag war
aber blind gegen die Gefahr, so lebhaft sie Eulenburg auch schilderte, und ver¬
warf den Artikel, den er unbedingt für Kautschuk hielt. Der Grund, warum
Virchow den Spieß umdrehte, zeigte sich bald: er kann es dem vorigen Minister
des Innern nicht vergessen, daß derselbe die Gefährlichkeit des wüsten Nörgel¬
systems der Fortschrittler richtig erkannt, so bezeichnet und als die Vorfrucht
jenes Uebels bekämpft hatte. Nun höhnt der Professor diese Bekämpfung,
durch welche nur Schlimmeres bewirkt sei. Auch die „schlechte Politik" des
Kanzlers soll, nach Virchow, die Sozialdemokratie verschuldet haben. Hierauf
wurde ihm jedoch eine Antwort zu Theil, die ihm schon bei vielen früheren
Anlässen hätte gegeben werden sollen: er kann es eben, bemerkte Bethusy tref¬
fend, noch immer nicht verwinden, daß Bismarck die Einheit Deutschland's nicht
nach der Fayon des Fortschritts, sondern auf die einzig mögliche Art bewirkt
hat. Bei seiner ferneren umständlichen Wiederholung der zur Genüge im
Reichstag besprochenen Gesichtspunkte suchte Virchow die Nationalliberalen
durch die gesuchtesten Spitzfindigkeiten zu reizen. Welche Verwirrung kann der
Mann ferner im Lande anrichten durch die Insinuation, daß der Minister kein
Material habe, um die Ausgewiesenen der Billigung des Königsmords zu zeihen!
Als ob je solch' direkter Zusammenhang behauptet wäre! Welche Ermuthigung
endlich für die Sozialdemokraten, das Mitleid für sich angeregt zu sehen durch
die Insinuation, daß man sie härter als die Jesuiten behandele und erst von
einem Orte zum andern Hetzen werde, bevor man sie aus dem Lande jage.
Die Häupter, welche den Sozialdemokraten in Berlin verloren gingen, scheinen
ihnen durch diesen Protektor wieder etwas ersetzt.

Indem wir uns mit Widerwillen von diesem Bilde abwenden, sehen wir
auf der Tribüne Herrn von Ludwig erscheinen. Derselbe, ein wunderbares


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0478" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141357"/>
          <p xml:id="ID_1565" prev="#ID_1564"> Vermochte ersterer dem Minister nichts direkt anzuhaben, so suchte er ihm<lb/>
wenigstens durch heftige Anklage gegen dessen Oheim und Vorgänger empfind¬<lb/>
lich beizukommen. Richtig ist, daß die skandalösen Aufzüge der Berliner<lb/>
Sozialdemokraten, gegen welche die Polizei nicht einschritt, unter des letzteren<lb/>
Amtsführung fielen; es war aber ein starkes Stück, diesem vorzuwerfen, solcher<lb/>
Art die Sozialdemokratie großgezogen zu haben. Ganz richtig wies Graf<lb/>
Bethusy darauf hin, daß damals und überhaupt seit langer Zeit die Fort¬<lb/>
schrittler über Uebergriffe der Polizei geklagt. Er hätte auch geradezu sagen<lb/>
können, daß letztere eben dadurch kopfscheu geworden war. Vor allem aber<lb/>
hätte vom Minister, welcher den Angriff auf seinen Oheim ruhig hinnahm,<lb/>
erwidert werden können, daß gerade dieser als der Erste am eindringlichsten vor<lb/>
der Sozialdemokratie gewarnt hat. Es geschah dies am 28. Januar 1876 im<lb/>
Reichstage bei Berathung der Strafgesetznovelle; die Bestimmung des § 130<lb/>
war ganz besonders auf die Sozialdemokraten gemünzt, der Reichstag war<lb/>
aber blind gegen die Gefahr, so lebhaft sie Eulenburg auch schilderte, und ver¬<lb/>
warf den Artikel, den er unbedingt für Kautschuk hielt. Der Grund, warum<lb/>
Virchow den Spieß umdrehte, zeigte sich bald: er kann es dem vorigen Minister<lb/>
des Innern nicht vergessen, daß derselbe die Gefährlichkeit des wüsten Nörgel¬<lb/>
systems der Fortschrittler richtig erkannt, so bezeichnet und als die Vorfrucht<lb/>
jenes Uebels bekämpft hatte. Nun höhnt der Professor diese Bekämpfung,<lb/>
durch welche nur Schlimmeres bewirkt sei. Auch die &#x201E;schlechte Politik" des<lb/>
Kanzlers soll, nach Virchow, die Sozialdemokratie verschuldet haben. Hierauf<lb/>
wurde ihm jedoch eine Antwort zu Theil, die ihm schon bei vielen früheren<lb/>
Anlässen hätte gegeben werden sollen: er kann es eben, bemerkte Bethusy tref¬<lb/>
fend, noch immer nicht verwinden, daß Bismarck die Einheit Deutschland's nicht<lb/>
nach der Fayon des Fortschritts, sondern auf die einzig mögliche Art bewirkt<lb/>
hat. Bei seiner ferneren umständlichen Wiederholung der zur Genüge im<lb/>
Reichstag besprochenen Gesichtspunkte suchte Virchow die Nationalliberalen<lb/>
durch die gesuchtesten Spitzfindigkeiten zu reizen. Welche Verwirrung kann der<lb/>
Mann ferner im Lande anrichten durch die Insinuation, daß der Minister kein<lb/>
Material habe, um die Ausgewiesenen der Billigung des Königsmords zu zeihen!<lb/>
Als ob je solch' direkter Zusammenhang behauptet wäre! Welche Ermuthigung<lb/>
endlich für die Sozialdemokraten, das Mitleid für sich angeregt zu sehen durch<lb/>
die Insinuation, daß man sie härter als die Jesuiten behandele und erst von<lb/>
einem Orte zum andern Hetzen werde, bevor man sie aus dem Lande jage.<lb/>
Die Häupter, welche den Sozialdemokraten in Berlin verloren gingen, scheinen<lb/>
ihnen durch diesen Protektor wieder etwas ersetzt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1566" next="#ID_1567"> Indem wir uns mit Widerwillen von diesem Bilde abwenden, sehen wir<lb/>
auf der Tribüne Herrn von Ludwig erscheinen. Derselbe, ein wunderbares</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0478] Vermochte ersterer dem Minister nichts direkt anzuhaben, so suchte er ihm wenigstens durch heftige Anklage gegen dessen Oheim und Vorgänger empfind¬ lich beizukommen. Richtig ist, daß die skandalösen Aufzüge der Berliner Sozialdemokraten, gegen welche die Polizei nicht einschritt, unter des letzteren Amtsführung fielen; es war aber ein starkes Stück, diesem vorzuwerfen, solcher Art die Sozialdemokratie großgezogen zu haben. Ganz richtig wies Graf Bethusy darauf hin, daß damals und überhaupt seit langer Zeit die Fort¬ schrittler über Uebergriffe der Polizei geklagt. Er hätte auch geradezu sagen können, daß letztere eben dadurch kopfscheu geworden war. Vor allem aber hätte vom Minister, welcher den Angriff auf seinen Oheim ruhig hinnahm, erwidert werden können, daß gerade dieser als der Erste am eindringlichsten vor der Sozialdemokratie gewarnt hat. Es geschah dies am 28. Januar 1876 im Reichstage bei Berathung der Strafgesetznovelle; die Bestimmung des § 130 war ganz besonders auf die Sozialdemokraten gemünzt, der Reichstag war aber blind gegen die Gefahr, so lebhaft sie Eulenburg auch schilderte, und ver¬ warf den Artikel, den er unbedingt für Kautschuk hielt. Der Grund, warum Virchow den Spieß umdrehte, zeigte sich bald: er kann es dem vorigen Minister des Innern nicht vergessen, daß derselbe die Gefährlichkeit des wüsten Nörgel¬ systems der Fortschrittler richtig erkannt, so bezeichnet und als die Vorfrucht jenes Uebels bekämpft hatte. Nun höhnt der Professor diese Bekämpfung, durch welche nur Schlimmeres bewirkt sei. Auch die „schlechte Politik" des Kanzlers soll, nach Virchow, die Sozialdemokratie verschuldet haben. Hierauf wurde ihm jedoch eine Antwort zu Theil, die ihm schon bei vielen früheren Anlässen hätte gegeben werden sollen: er kann es eben, bemerkte Bethusy tref¬ fend, noch immer nicht verwinden, daß Bismarck die Einheit Deutschland's nicht nach der Fayon des Fortschritts, sondern auf die einzig mögliche Art bewirkt hat. Bei seiner ferneren umständlichen Wiederholung der zur Genüge im Reichstag besprochenen Gesichtspunkte suchte Virchow die Nationalliberalen durch die gesuchtesten Spitzfindigkeiten zu reizen. Welche Verwirrung kann der Mann ferner im Lande anrichten durch die Insinuation, daß der Minister kein Material habe, um die Ausgewiesenen der Billigung des Königsmords zu zeihen! Als ob je solch' direkter Zusammenhang behauptet wäre! Welche Ermuthigung endlich für die Sozialdemokraten, das Mitleid für sich angeregt zu sehen durch die Insinuation, daß man sie härter als die Jesuiten behandele und erst von einem Orte zum andern Hetzen werde, bevor man sie aus dem Lande jage. Die Häupter, welche den Sozialdemokraten in Berlin verloren gingen, scheinen ihnen durch diesen Protektor wieder etwas ersetzt. Indem wir uns mit Widerwillen von diesem Bilde abwenden, sehen wir auf der Tribüne Herrn von Ludwig erscheinen. Derselbe, ein wunderbares

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/478
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/478>, abgerufen am 15.05.2024.