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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Bettina und die Hoethischen Sonette.

Goethe hat, wie Nestor, drei Menschenalter gesehen. Man muß sich ver¬
gegenwärtigen, daß er zu Gottsched's und Gellert's Füßen gesessen, aber auch
das Erscheinen von Heine's "Buch der Lieder" erlebt hat, daß er Oeser's
Schüler im Zeichnen war, aber auch das Talent Friedrich Preller's, der kaum
vor Jahresfrist heimgegangen, noch schätzen lernte, um sich bewußt zu werden,
was dieses Leben alles umspannte. Aber wie er als Schriftsteller auf drei
Altersstufen unserem Volke gegenüber gestanden hat, so lebte er auch einzelnen
Familien gegenüber in lebendigen Beziehungen zu drei Generationen. Die
Freundschaft, in der er zu Sophie La Roche und deren Tochter Maximiliane
Brentano gestanden, sie lebte mehr als drei Jahrzehnte später wieder auf in
seinem Verhältniß zu Maximiliane's Tochter Bettina. Mit Großmutter, Mutter
und "Kind" hat er verkehrt, ja bis zur Generation der Urenkel lassen diese Be¬
ziehungen sich ausdehnen: Ein Vers, den er noch 1832 in das Stammbuch
des frühverstorbenen ältesten Sohnes von Bettina schrieb, ist vielleicht das letzte
Dichterische, das aus seiner Feder gekommen.

Ueber Bettina existirt eine endlose Literatur. Wenig Gutes, sehr viel
Schlimmes ist über sie ausgesprochen worden. Ihr ganz gerecht zu werdeu,
vor allem über das vielbesprochene Verhältniß, in welchem ihre Briefe an Goethe
zu einigen Goethischen Gedichten stehen sollen, die volle Wahrheit festzustellen,
diese Möglichkeit hat sie selber halb und halb vereitelt und damit auch den
Anspruch darauf verscherzt. Aber was sie selbst verdorben, scheint nach und
nach durch andere Hände wieder gut gemacht werdeu zu sollen. Dasselbe
Buch**), an dessen Hand wir zum ersten Male einen klaren Einblick in Goethe's
Verkehr mit Maximiliane La Roche gewonnen haben, bringt in seinem zweiten
Theile auch wichtige Dokumente bei über seinen Verkehr mit Bettina, Doku¬
mente, deren Bedeutung sofort ersichtlich werden wird, wenn wir den bisherigen
Stand der Bettina-Frage uns in Kürze vergegenwärtigen.

Goethe kannte Bettina von Kindesbeinen an; bei mehrfachen Besuchen in
Frankfurt, bei denen er auch wieder in das Brentano'sche Haus kam -- zuletzt
noch 1793 kurz vor Maximiliane's Tode -- muß er das "Kind" gesehen haben-




*) Durch ein Mißverständniß bei der Korrektur ist in unserem vorigen Aufsatze über
Maximiliane der Batername von Sophie La Roche, Gutermann, in die wahrhaft asiatische
Form Chutermann korrumpirt worden.
**) Briefe Goethe's an Sophie von La Roche und Bettina Brentano
nebst dichterischen Beilagen herausgegeben von G> Von Loeper, Berlin, W. Hertz, Mg,
Bettina und die Hoethischen Sonette.

Goethe hat, wie Nestor, drei Menschenalter gesehen. Man muß sich ver¬
gegenwärtigen, daß er zu Gottsched's und Gellert's Füßen gesessen, aber auch
das Erscheinen von Heine's „Buch der Lieder" erlebt hat, daß er Oeser's
Schüler im Zeichnen war, aber auch das Talent Friedrich Preller's, der kaum
vor Jahresfrist heimgegangen, noch schätzen lernte, um sich bewußt zu werden,
was dieses Leben alles umspannte. Aber wie er als Schriftsteller auf drei
Altersstufen unserem Volke gegenüber gestanden hat, so lebte er auch einzelnen
Familien gegenüber in lebendigen Beziehungen zu drei Generationen. Die
Freundschaft, in der er zu Sophie La Roche und deren Tochter Maximiliane
Brentano gestanden, sie lebte mehr als drei Jahrzehnte später wieder auf in
seinem Verhältniß zu Maximiliane's Tochter Bettina. Mit Großmutter, Mutter
und „Kind" hat er verkehrt, ja bis zur Generation der Urenkel lassen diese Be¬
ziehungen sich ausdehnen: Ein Vers, den er noch 1832 in das Stammbuch
des frühverstorbenen ältesten Sohnes von Bettina schrieb, ist vielleicht das letzte
Dichterische, das aus seiner Feder gekommen.

Ueber Bettina existirt eine endlose Literatur. Wenig Gutes, sehr viel
Schlimmes ist über sie ausgesprochen worden. Ihr ganz gerecht zu werdeu,
vor allem über das vielbesprochene Verhältniß, in welchem ihre Briefe an Goethe
zu einigen Goethischen Gedichten stehen sollen, die volle Wahrheit festzustellen,
diese Möglichkeit hat sie selber halb und halb vereitelt und damit auch den
Anspruch darauf verscherzt. Aber was sie selbst verdorben, scheint nach und
nach durch andere Hände wieder gut gemacht werdeu zu sollen. Dasselbe
Buch**), an dessen Hand wir zum ersten Male einen klaren Einblick in Goethe's
Verkehr mit Maximiliane La Roche gewonnen haben, bringt in seinem zweiten
Theile auch wichtige Dokumente bei über seinen Verkehr mit Bettina, Doku¬
mente, deren Bedeutung sofort ersichtlich werden wird, wenn wir den bisherigen
Stand der Bettina-Frage uns in Kürze vergegenwärtigen.

Goethe kannte Bettina von Kindesbeinen an; bei mehrfachen Besuchen in
Frankfurt, bei denen er auch wieder in das Brentano'sche Haus kam — zuletzt
noch 1793 kurz vor Maximiliane's Tode — muß er das „Kind" gesehen haben-




*) Durch ein Mißverständniß bei der Korrektur ist in unserem vorigen Aufsatze über
Maximiliane der Batername von Sophie La Roche, Gutermann, in die wahrhaft asiatische
Form Chutermann korrumpirt worden.
**) Briefe Goethe's an Sophie von La Roche und Bettina Brentano
nebst dichterischen Beilagen herausgegeben von G> Von Loeper, Berlin, W. Hertz, Mg,
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[0440] Bettina und die Hoethischen Sonette. Goethe hat, wie Nestor, drei Menschenalter gesehen. Man muß sich ver¬ gegenwärtigen, daß er zu Gottsched's und Gellert's Füßen gesessen, aber auch das Erscheinen von Heine's „Buch der Lieder" erlebt hat, daß er Oeser's Schüler im Zeichnen war, aber auch das Talent Friedrich Preller's, der kaum vor Jahresfrist heimgegangen, noch schätzen lernte, um sich bewußt zu werden, was dieses Leben alles umspannte. Aber wie er als Schriftsteller auf drei Altersstufen unserem Volke gegenüber gestanden hat, so lebte er auch einzelnen Familien gegenüber in lebendigen Beziehungen zu drei Generationen. Die Freundschaft, in der er zu Sophie La Roche und deren Tochter Maximiliane Brentano gestanden, sie lebte mehr als drei Jahrzehnte später wieder auf in seinem Verhältniß zu Maximiliane's Tochter Bettina. Mit Großmutter, Mutter und „Kind" hat er verkehrt, ja bis zur Generation der Urenkel lassen diese Be¬ ziehungen sich ausdehnen: Ein Vers, den er noch 1832 in das Stammbuch des frühverstorbenen ältesten Sohnes von Bettina schrieb, ist vielleicht das letzte Dichterische, das aus seiner Feder gekommen. Ueber Bettina existirt eine endlose Literatur. Wenig Gutes, sehr viel Schlimmes ist über sie ausgesprochen worden. Ihr ganz gerecht zu werdeu, vor allem über das vielbesprochene Verhältniß, in welchem ihre Briefe an Goethe zu einigen Goethischen Gedichten stehen sollen, die volle Wahrheit festzustellen, diese Möglichkeit hat sie selber halb und halb vereitelt und damit auch den Anspruch darauf verscherzt. Aber was sie selbst verdorben, scheint nach und nach durch andere Hände wieder gut gemacht werdeu zu sollen. Dasselbe Buch**), an dessen Hand wir zum ersten Male einen klaren Einblick in Goethe's Verkehr mit Maximiliane La Roche gewonnen haben, bringt in seinem zweiten Theile auch wichtige Dokumente bei über seinen Verkehr mit Bettina, Doku¬ mente, deren Bedeutung sofort ersichtlich werden wird, wenn wir den bisherigen Stand der Bettina-Frage uns in Kürze vergegenwärtigen. Goethe kannte Bettina von Kindesbeinen an; bei mehrfachen Besuchen in Frankfurt, bei denen er auch wieder in das Brentano'sche Haus kam — zuletzt noch 1793 kurz vor Maximiliane's Tode — muß er das „Kind" gesehen haben- *) Durch ein Mißverständniß bei der Korrektur ist in unserem vorigen Aufsatze über Maximiliane der Batername von Sophie La Roche, Gutermann, in die wahrhaft asiatische Form Chutermann korrumpirt worden. **) Briefe Goethe's an Sophie von La Roche und Bettina Brentano nebst dichterischen Beilagen herausgegeben von G> Von Loeper, Berlin, W. Hertz, Mg,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/440>, abgerufen am 06.05.2024.