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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Männer für ihre Pflicht: freilich wußten sie ihm nichts anderes entgegenzu¬
setzen, als das farblose Weltbürgerthum.

In der Schrift "Ueber den Nationalstolz" (1758) geißelt Zimmer¬
mann in einem Tone, der stark an die damaligen Franzosen erinnert, die
Schwächen des spezifischen Nationalgefühls; bezeichnend ist es, daß der Schweizer
die republikanischen Formen verhöhnt: "Der Freiheitsgeist eines Montesquieu
und so vieler anderen Franzosen ist die größte Satire auf die Denkart der
angeblichen Republikaner.....Wir leben in der Dämmerung einer großen
Revolution. Des langen Zwangs müde, wirft man die Ketten der alten Vor¬
urtheile ab, um vou den Verlornen Rechten der Vernunft wieder Besitz zu
nehmen. Freilich artet diese Dreistigkeit im Denken oft in eine strafbare Frech¬
heit aus."

Das Buch wurde ein Lesebuch der ganzen gebildeten Gesellschaft. "Die
Alten," schreibt Mendelssohn, "haben uns vortreffliche Schriften der Art
hinterlassen; die deutschen Weltweisen schränken sich in den engen Bezirk der
Ideen ein, die sie zwischen den Mauern der Universität, ohne einen Blick in
die große Welt, schöpfen können. Nur die freigebornen Schweizer versuchen
seit einiger Zeit dergleichen."




Die Statistik der Derbrechen und der freie Wisse.
ii.

Wir haben im vorhergehenden Artikel das Spiel der Kräfte darzustellen
versucht, in welchem die Gesellschaft und der freie Wille des Einzelnen sich
gegenseitig bedingen und bestimmen. Wenn die Statistik der Gesellschaft uns
die regelmäßig wiederkehrende Zahl bestimmter sozialer Erscheinungen, wie der
Verbrechen, aufzeigt und damit der Nothwendigkeit des Schicksals, wie es in
den Bedingungen der Gesellschaft in Zeit und Raum gegeben ist, die bleibende
Herrschaft über den freien Willen zu garantiren scheint, so haben wir versucht,
da die Gesellschaft doch eben kein Abstraktum, sondern eine aus Individuen
zusammengesetzte Gemeinschaft ist, die Wirkungen des freien Willens des Ein¬
zelnen als Thatsache, wenn auch als unerklärte, zu retten und loszulösen.
Gewiß ist ja mit der gleichen Zahl von Menschen nicht eine Summe von
gleichen Bestandtheilen der Gesellschaft gegeben; bei gleicher Zahl werden die
verschiedenen Gesellschaftskörper die verschiedenste Natur aufweisen; auch wächst


Männer für ihre Pflicht: freilich wußten sie ihm nichts anderes entgegenzu¬
setzen, als das farblose Weltbürgerthum.

In der Schrift „Ueber den Nationalstolz" (1758) geißelt Zimmer¬
mann in einem Tone, der stark an die damaligen Franzosen erinnert, die
Schwächen des spezifischen Nationalgefühls; bezeichnend ist es, daß der Schweizer
die republikanischen Formen verhöhnt: „Der Freiheitsgeist eines Montesquieu
und so vieler anderen Franzosen ist die größte Satire auf die Denkart der
angeblichen Republikaner.....Wir leben in der Dämmerung einer großen
Revolution. Des langen Zwangs müde, wirft man die Ketten der alten Vor¬
urtheile ab, um vou den Verlornen Rechten der Vernunft wieder Besitz zu
nehmen. Freilich artet diese Dreistigkeit im Denken oft in eine strafbare Frech¬
heit aus."

Das Buch wurde ein Lesebuch der ganzen gebildeten Gesellschaft. „Die
Alten," schreibt Mendelssohn, „haben uns vortreffliche Schriften der Art
hinterlassen; die deutschen Weltweisen schränken sich in den engen Bezirk der
Ideen ein, die sie zwischen den Mauern der Universität, ohne einen Blick in
die große Welt, schöpfen können. Nur die freigebornen Schweizer versuchen
seit einiger Zeit dergleichen."




Die Statistik der Derbrechen und der freie Wisse.
ii.

Wir haben im vorhergehenden Artikel das Spiel der Kräfte darzustellen
versucht, in welchem die Gesellschaft und der freie Wille des Einzelnen sich
gegenseitig bedingen und bestimmen. Wenn die Statistik der Gesellschaft uns
die regelmäßig wiederkehrende Zahl bestimmter sozialer Erscheinungen, wie der
Verbrechen, aufzeigt und damit der Nothwendigkeit des Schicksals, wie es in
den Bedingungen der Gesellschaft in Zeit und Raum gegeben ist, die bleibende
Herrschaft über den freien Willen zu garantiren scheint, so haben wir versucht,
da die Gesellschaft doch eben kein Abstraktum, sondern eine aus Individuen
zusammengesetzte Gemeinschaft ist, die Wirkungen des freien Willens des Ein¬
zelnen als Thatsache, wenn auch als unerklärte, zu retten und loszulösen.
Gewiß ist ja mit der gleichen Zahl von Menschen nicht eine Summe von
gleichen Bestandtheilen der Gesellschaft gegeben; bei gleicher Zahl werden die
verschiedenen Gesellschaftskörper die verschiedenste Natur aufweisen; auch wächst


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[0262] Männer für ihre Pflicht: freilich wußten sie ihm nichts anderes entgegenzu¬ setzen, als das farblose Weltbürgerthum. In der Schrift „Ueber den Nationalstolz" (1758) geißelt Zimmer¬ mann in einem Tone, der stark an die damaligen Franzosen erinnert, die Schwächen des spezifischen Nationalgefühls; bezeichnend ist es, daß der Schweizer die republikanischen Formen verhöhnt: „Der Freiheitsgeist eines Montesquieu und so vieler anderen Franzosen ist die größte Satire auf die Denkart der angeblichen Republikaner.....Wir leben in der Dämmerung einer großen Revolution. Des langen Zwangs müde, wirft man die Ketten der alten Vor¬ urtheile ab, um vou den Verlornen Rechten der Vernunft wieder Besitz zu nehmen. Freilich artet diese Dreistigkeit im Denken oft in eine strafbare Frech¬ heit aus." Das Buch wurde ein Lesebuch der ganzen gebildeten Gesellschaft. „Die Alten," schreibt Mendelssohn, „haben uns vortreffliche Schriften der Art hinterlassen; die deutschen Weltweisen schränken sich in den engen Bezirk der Ideen ein, die sie zwischen den Mauern der Universität, ohne einen Blick in die große Welt, schöpfen können. Nur die freigebornen Schweizer versuchen seit einiger Zeit dergleichen." Die Statistik der Derbrechen und der freie Wisse. ii. Wir haben im vorhergehenden Artikel das Spiel der Kräfte darzustellen versucht, in welchem die Gesellschaft und der freie Wille des Einzelnen sich gegenseitig bedingen und bestimmen. Wenn die Statistik der Gesellschaft uns die regelmäßig wiederkehrende Zahl bestimmter sozialer Erscheinungen, wie der Verbrechen, aufzeigt und damit der Nothwendigkeit des Schicksals, wie es in den Bedingungen der Gesellschaft in Zeit und Raum gegeben ist, die bleibende Herrschaft über den freien Willen zu garantiren scheint, so haben wir versucht, da die Gesellschaft doch eben kein Abstraktum, sondern eine aus Individuen zusammengesetzte Gemeinschaft ist, die Wirkungen des freien Willens des Ein¬ zelnen als Thatsache, wenn auch als unerklärte, zu retten und loszulösen. Gewiß ist ja mit der gleichen Zahl von Menschen nicht eine Summe von gleichen Bestandtheilen der Gesellschaft gegeben; bei gleicher Zahl werden die verschiedenen Gesellschaftskörper die verschiedenste Natur aufweisen; auch wächst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/262>, abgerufen am 01.05.2024.