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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Rechtsstaat, den die Juristen unter unseren Abgeordneten gewöhnlich meinen,
wenn sie den Ausdruck gebrauchen, nichts ist als das Ergebniß einer einseitigen
Auffassung, nichts als eine Utopie. Wir meinen aber, daß das Gesagte hin¬
reichen wird, ihn als solche erkennen zu lassen.




Aas neue Hauptwerk Lduard von Kartmann's.
Rudolf Seydel. Von

"Im Anfang war die That!" Diese Abänderung des bekannten Evan¬
gelientextes, bei welcher Goethe's Faust zuletzt "auf einmal Rath sieht", ist
mehrfach zum Motto der deutschen Philosophie der letzten Jahrzehnte geworden.
Die Systeme, welche auf Kant und Fichte folgten, also vorzüglich das des
jugendlichen Schelling und die Lehren Hegel's, waren Systeme einer fatalisti¬
schen Nothwendigkeit gewesen, welche dem Prinzip der "That" diametral ent¬
gegenstand. Die Gottheit, der Urgrund des Daseins, war ihnen entweder
Eins mit der logischen Vernunft, aus deren formeller Gesetzmäßigkeit sie den
gesammten Lebensprozeß des Universums zu begreifen suchten, oder es wurde
wohl ein etwas voller und realer bestimmtes Urwesen an die Spitze gehoben,
ohne doch in anderer Weise als durch inhaltleere logisch-metaphysische Noth¬
wendigkeit das Weltdasein und seinen Inhalt abzuleiten -- vielmehr ableiten
zu wollen. Denn eben dieses Ableiten wollte niemals gelingen. Es mußte
eine Zeit folgen, welche dem "Ableiten" überhaupt gram wurde, am liebsten
aller logischen oder metaphysischen Nothwendigkeit den Rücken kehrte, wenigstens
ihr allein nicht mehr zutraute, der Atlas des Universums zu sein. Schelling
hatte, in die reiferen Mannesjahre getreten, im Jahre 1809 die Puppenschale
seiner Jugendphilosophie gesprengt; mit der Parole "Wollen ist Ursein" entflog
er den starren Fesseln der Nothwendigkeit. Langsam reiften von diesem Momente
an die "Philosophieen der That", und immer lauter erklang der Ruf nach
einem Systeme der Freiheit, während gleichzeitig die Systeme der Nothwendig¬
keit noch Jahrzehnte lang gepflegt, ausgebildet, verbreitet wurden und sich der
Herrschaft freuten. Endlich, nachdem diese Herrschaft durch Thatsachenforschung
und Gedankenkritik in der öffentlichen Meinung für völlig gebrochen gelten
konnte, da wäre die Zeit gewesen, mit den Philosophieen der That den sieg¬
reichen Einzug zu feiern.

Daß sie es hierzu nicht brachten, lag an gar mancherlei Ursachen; zum


Rechtsstaat, den die Juristen unter unseren Abgeordneten gewöhnlich meinen,
wenn sie den Ausdruck gebrauchen, nichts ist als das Ergebniß einer einseitigen
Auffassung, nichts als eine Utopie. Wir meinen aber, daß das Gesagte hin¬
reichen wird, ihn als solche erkennen zu lassen.




Aas neue Hauptwerk Lduard von Kartmann's.
Rudolf Seydel. Von

„Im Anfang war die That!" Diese Abänderung des bekannten Evan¬
gelientextes, bei welcher Goethe's Faust zuletzt „auf einmal Rath sieht", ist
mehrfach zum Motto der deutschen Philosophie der letzten Jahrzehnte geworden.
Die Systeme, welche auf Kant und Fichte folgten, also vorzüglich das des
jugendlichen Schelling und die Lehren Hegel's, waren Systeme einer fatalisti¬
schen Nothwendigkeit gewesen, welche dem Prinzip der „That" diametral ent¬
gegenstand. Die Gottheit, der Urgrund des Daseins, war ihnen entweder
Eins mit der logischen Vernunft, aus deren formeller Gesetzmäßigkeit sie den
gesammten Lebensprozeß des Universums zu begreifen suchten, oder es wurde
wohl ein etwas voller und realer bestimmtes Urwesen an die Spitze gehoben,
ohne doch in anderer Weise als durch inhaltleere logisch-metaphysische Noth¬
wendigkeit das Weltdasein und seinen Inhalt abzuleiten — vielmehr ableiten
zu wollen. Denn eben dieses Ableiten wollte niemals gelingen. Es mußte
eine Zeit folgen, welche dem „Ableiten" überhaupt gram wurde, am liebsten
aller logischen oder metaphysischen Nothwendigkeit den Rücken kehrte, wenigstens
ihr allein nicht mehr zutraute, der Atlas des Universums zu sein. Schelling
hatte, in die reiferen Mannesjahre getreten, im Jahre 1809 die Puppenschale
seiner Jugendphilosophie gesprengt; mit der Parole „Wollen ist Ursein" entflog
er den starren Fesseln der Nothwendigkeit. Langsam reiften von diesem Momente
an die „Philosophieen der That", und immer lauter erklang der Ruf nach
einem Systeme der Freiheit, während gleichzeitig die Systeme der Nothwendig¬
keit noch Jahrzehnte lang gepflegt, ausgebildet, verbreitet wurden und sich der
Herrschaft freuten. Endlich, nachdem diese Herrschaft durch Thatsachenforschung
und Gedankenkritik in der öffentlichen Meinung für völlig gebrochen gelten
konnte, da wäre die Zeit gewesen, mit den Philosophieen der That den sieg¬
reichen Einzug zu feiern.

Daß sie es hierzu nicht brachten, lag an gar mancherlei Ursachen; zum


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[0096] Rechtsstaat, den die Juristen unter unseren Abgeordneten gewöhnlich meinen, wenn sie den Ausdruck gebrauchen, nichts ist als das Ergebniß einer einseitigen Auffassung, nichts als eine Utopie. Wir meinen aber, daß das Gesagte hin¬ reichen wird, ihn als solche erkennen zu lassen. Aas neue Hauptwerk Lduard von Kartmann's. Rudolf Seydel. Von „Im Anfang war die That!" Diese Abänderung des bekannten Evan¬ gelientextes, bei welcher Goethe's Faust zuletzt „auf einmal Rath sieht", ist mehrfach zum Motto der deutschen Philosophie der letzten Jahrzehnte geworden. Die Systeme, welche auf Kant und Fichte folgten, also vorzüglich das des jugendlichen Schelling und die Lehren Hegel's, waren Systeme einer fatalisti¬ schen Nothwendigkeit gewesen, welche dem Prinzip der „That" diametral ent¬ gegenstand. Die Gottheit, der Urgrund des Daseins, war ihnen entweder Eins mit der logischen Vernunft, aus deren formeller Gesetzmäßigkeit sie den gesammten Lebensprozeß des Universums zu begreifen suchten, oder es wurde wohl ein etwas voller und realer bestimmtes Urwesen an die Spitze gehoben, ohne doch in anderer Weise als durch inhaltleere logisch-metaphysische Noth¬ wendigkeit das Weltdasein und seinen Inhalt abzuleiten — vielmehr ableiten zu wollen. Denn eben dieses Ableiten wollte niemals gelingen. Es mußte eine Zeit folgen, welche dem „Ableiten" überhaupt gram wurde, am liebsten aller logischen oder metaphysischen Nothwendigkeit den Rücken kehrte, wenigstens ihr allein nicht mehr zutraute, der Atlas des Universums zu sein. Schelling hatte, in die reiferen Mannesjahre getreten, im Jahre 1809 die Puppenschale seiner Jugendphilosophie gesprengt; mit der Parole „Wollen ist Ursein" entflog er den starren Fesseln der Nothwendigkeit. Langsam reiften von diesem Momente an die „Philosophieen der That", und immer lauter erklang der Ruf nach einem Systeme der Freiheit, während gleichzeitig die Systeme der Nothwendig¬ keit noch Jahrzehnte lang gepflegt, ausgebildet, verbreitet wurden und sich der Herrschaft freuten. Endlich, nachdem diese Herrschaft durch Thatsachenforschung und Gedankenkritik in der öffentlichen Meinung für völlig gebrochen gelten konnte, da wäre die Zeit gewesen, mit den Philosophieen der That den sieg¬ reichen Einzug zu feiern. Daß sie es hierzu nicht brachten, lag an gar mancherlei Ursachen; zum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/96>, abgerufen am 30.04.2024.