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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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4.
Flucht. Gefangen. Im Klosterhöfe.

Im Gewühl einer Menge, welche vor den bereits in den abgelegenen
Theilen der Stadt herumschwärmenden Kosakenabtheilungen floh und einer ans
einem brennenden Theatergebäude sich wälzenden Menschenmasse glich, drängte
ich mich durch das Thor hinaus. Dort erwartete ich mit einigen wenigen
Kriegsgenossen in der Nähe des noch hier befindlichen einzigen Wagens des
Brigadechefs (unsere übrigen Wagen waren schon vorwärts) das Bataillon, das
aus der Stadt nachkommen sollte. Indem wir dort vor dem Thore bei dem
Wagen mehrere Stunden warteten, mußten wir sehen, wie russische Batterien
auf eiuer Anhöhe sich ordneten. Hier gab ich, von innigem Mitleid getrieben,
einem kranken Capitän ein Paar kurze weite Schnürstiefel; ich selbst aber zog
die Schuhe an, in deren Brandsohlen ich, wie schon erwähnt, ans Anrathen
mich Juden mir 10 Louisd'or hatte einnahm lassen. Unser Bataillon erwar¬
teten wir vergebens. Nach langem Harren wurde uns bekannt gemacht, daß
dasselbe schon längst durch eine andere Pforte ausmarschirt sei.*) Wir bewegten
uns uun auch unter den Augen des Feindes die mit Eis bedeckte, spiegelglatte
Straße entlang, welche größtenteils durch zurückgelassene Wagen, unter denen
auch die unsrigen sich befanden, gefallene Pferde und tgi. versperrt war, und
gelangten nach einigen Stunden an einen Berg, wo das weitere Fortkommen
durch verbrannte Equipagen und Wagen unmöglich geworden war. Da das
Fuhrwerk Seitenwege einschlagen mußte und wir mit ihm nur langsam vor¬
wärts kommen konnte", war es natürlich, daß die uns in einiger Entfermmg
^gleitenden Kosaken und andere Cavalleristen uns immer- näher kamen. Sie
erreichten uns endlich, fielen den bei uns befindlichen Wagen des Vrigadechefs
an, rissen zwei kranke Hauptleute aus demselben und plünderten und mißhan¬
delten sie. Die kleine, bis auf wenige Mann zusammengeschmolzene Bedeckung,
und so auch ich, ergriff nunmehr die Flucht. Der Umstand, daß zwei von den
Fliehenden, die ihre Gewehre nicht weggeworfen hatten, von den Verfolgern
niedergestoßen wurden, trieb mich an, hastig durch ein kleines Gesträuch vor-
wärtszudringen, um wieder zu unserer Colonne zu stoßen, die ich hinter einem
entfernten Gehölz vermuthete, da ich von da her öfters einzelne Schüsse fallen
harte. Von den Feinden verfolgt und gewiß zwanzigmal das Ziel feindlicher
Kugeln, die zum Glück mich verfehlten, hatte ich in Zeit einer Viertelstunde
sast eine Stunde Wegs zurückgelegt, indem ich zwischen Bäumen hin und durch



*) Das ganze Regiment wurde unweit der Wilnacr Thore theils von den Russen
niedergehauen, theils gefangen, theils zerstreut.
Grenzlwten III. 1880. 42
4.
Flucht. Gefangen. Im Klosterhöfe.

Im Gewühl einer Menge, welche vor den bereits in den abgelegenen
Theilen der Stadt herumschwärmenden Kosakenabtheilungen floh und einer ans
einem brennenden Theatergebäude sich wälzenden Menschenmasse glich, drängte
ich mich durch das Thor hinaus. Dort erwartete ich mit einigen wenigen
Kriegsgenossen in der Nähe des noch hier befindlichen einzigen Wagens des
Brigadechefs (unsere übrigen Wagen waren schon vorwärts) das Bataillon, das
aus der Stadt nachkommen sollte. Indem wir dort vor dem Thore bei dem
Wagen mehrere Stunden warteten, mußten wir sehen, wie russische Batterien
auf eiuer Anhöhe sich ordneten. Hier gab ich, von innigem Mitleid getrieben,
einem kranken Capitän ein Paar kurze weite Schnürstiefel; ich selbst aber zog
die Schuhe an, in deren Brandsohlen ich, wie schon erwähnt, ans Anrathen
mich Juden mir 10 Louisd'or hatte einnahm lassen. Unser Bataillon erwar¬
teten wir vergebens. Nach langem Harren wurde uns bekannt gemacht, daß
dasselbe schon längst durch eine andere Pforte ausmarschirt sei.*) Wir bewegten
uns uun auch unter den Augen des Feindes die mit Eis bedeckte, spiegelglatte
Straße entlang, welche größtenteils durch zurückgelassene Wagen, unter denen
auch die unsrigen sich befanden, gefallene Pferde und tgi. versperrt war, und
gelangten nach einigen Stunden an einen Berg, wo das weitere Fortkommen
durch verbrannte Equipagen und Wagen unmöglich geworden war. Da das
Fuhrwerk Seitenwege einschlagen mußte und wir mit ihm nur langsam vor¬
wärts kommen konnte», war es natürlich, daß die uns in einiger Entfermmg
^gleitenden Kosaken und andere Cavalleristen uns immer- näher kamen. Sie
erreichten uns endlich, fielen den bei uns befindlichen Wagen des Vrigadechefs
an, rissen zwei kranke Hauptleute aus demselben und plünderten und mißhan¬
delten sie. Die kleine, bis auf wenige Mann zusammengeschmolzene Bedeckung,
und so auch ich, ergriff nunmehr die Flucht. Der Umstand, daß zwei von den
Fliehenden, die ihre Gewehre nicht weggeworfen hatten, von den Verfolgern
niedergestoßen wurden, trieb mich an, hastig durch ein kleines Gesträuch vor-
wärtszudringen, um wieder zu unserer Colonne zu stoßen, die ich hinter einem
entfernten Gehölz vermuthete, da ich von da her öfters einzelne Schüsse fallen
harte. Von den Feinden verfolgt und gewiß zwanzigmal das Ziel feindlicher
Kugeln, die zum Glück mich verfehlten, hatte ich in Zeit einer Viertelstunde
sast eine Stunde Wegs zurückgelegt, indem ich zwischen Bäumen hin und durch



*) Das ganze Regiment wurde unweit der Wilnacr Thore theils von den Russen
niedergehauen, theils gefangen, theils zerstreut.
Grenzlwten III. 1880. 42
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[0326] 4. Flucht. Gefangen. Im Klosterhöfe. Im Gewühl einer Menge, welche vor den bereits in den abgelegenen Theilen der Stadt herumschwärmenden Kosakenabtheilungen floh und einer ans einem brennenden Theatergebäude sich wälzenden Menschenmasse glich, drängte ich mich durch das Thor hinaus. Dort erwartete ich mit einigen wenigen Kriegsgenossen in der Nähe des noch hier befindlichen einzigen Wagens des Brigadechefs (unsere übrigen Wagen waren schon vorwärts) das Bataillon, das aus der Stadt nachkommen sollte. Indem wir dort vor dem Thore bei dem Wagen mehrere Stunden warteten, mußten wir sehen, wie russische Batterien auf eiuer Anhöhe sich ordneten. Hier gab ich, von innigem Mitleid getrieben, einem kranken Capitän ein Paar kurze weite Schnürstiefel; ich selbst aber zog die Schuhe an, in deren Brandsohlen ich, wie schon erwähnt, ans Anrathen mich Juden mir 10 Louisd'or hatte einnahm lassen. Unser Bataillon erwar¬ teten wir vergebens. Nach langem Harren wurde uns bekannt gemacht, daß dasselbe schon längst durch eine andere Pforte ausmarschirt sei.*) Wir bewegten uns uun auch unter den Augen des Feindes die mit Eis bedeckte, spiegelglatte Straße entlang, welche größtenteils durch zurückgelassene Wagen, unter denen auch die unsrigen sich befanden, gefallene Pferde und tgi. versperrt war, und gelangten nach einigen Stunden an einen Berg, wo das weitere Fortkommen durch verbrannte Equipagen und Wagen unmöglich geworden war. Da das Fuhrwerk Seitenwege einschlagen mußte und wir mit ihm nur langsam vor¬ wärts kommen konnte», war es natürlich, daß die uns in einiger Entfermmg ^gleitenden Kosaken und andere Cavalleristen uns immer- näher kamen. Sie erreichten uns endlich, fielen den bei uns befindlichen Wagen des Vrigadechefs an, rissen zwei kranke Hauptleute aus demselben und plünderten und mißhan¬ delten sie. Die kleine, bis auf wenige Mann zusammengeschmolzene Bedeckung, und so auch ich, ergriff nunmehr die Flucht. Der Umstand, daß zwei von den Fliehenden, die ihre Gewehre nicht weggeworfen hatten, von den Verfolgern niedergestoßen wurden, trieb mich an, hastig durch ein kleines Gesträuch vor- wärtszudringen, um wieder zu unserer Colonne zu stoßen, die ich hinter einem entfernten Gehölz vermuthete, da ich von da her öfters einzelne Schüsse fallen harte. Von den Feinden verfolgt und gewiß zwanzigmal das Ziel feindlicher Kugeln, die zum Glück mich verfehlten, hatte ich in Zeit einer Viertelstunde sast eine Stunde Wegs zurückgelegt, indem ich zwischen Bäumen hin und durch *) Das ganze Regiment wurde unweit der Wilnacr Thore theils von den Russen niedergehauen, theils gefangen, theils zerstreut. Grenzlwten III. 1880. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/326>, abgerufen am 30.04.2024.