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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Rückzüge befand. Theils lief ich, um nicht dnrch andere zum Zurückbleiben ge¬
nöthigt zu werden, allein, indem ich noch Kräfte dazu fühlte; theils wanderte
ich mit Franzosen, die mich mit ihrer, auch durch das Grauenvolle ihrer Lage
uicht zu unterdrückenden guten Laune anzogen und aufheiterten. Bei dieser
Gelegenheit zeigte sich auch die Eigenthümlichkeit der Menschen, wonach sie auch
in der verzweifeltsten Lage vor allem um ihr Geld besorgt sind. Nicht wenigen
von den Militärs, die aus Moskau und dortiger Gegeud gekommen waren und
viel Geld hatten, klapperten während des Gehens die erfrorenen Hände wie
Nüsse. Gleichwohl suchten sie mit diesen knochenartigen Gliedern ihren Reich¬
thum noch zu retten, indem sie ihn, nachdem er aus dem durchgewetzten Tor¬
nister gefallen war, wieder auflasen und verbargen.

Zwölf Stunden früher als die übrigen kam ich in Wilna an, ging in die
Synagoge und schlief unter den Kranken, durch deren Ausdünstung es hier
warm geworden war, einige Stunden. Am folgenden Morgen rückte der zu¬
sammengelaufene diseiplinlose Militärhaufe, ein Bild des Entsetzens, in die Stadt
ein; ich glaube nicht, daß von 10--12000 Mann, aus denen unsere Division
bestanden hatte, noch 1500 übrig waren.*) Sie wurden von wüthendem Hunger
gequält. Vor allem war ich bemüht, ihnen Lebensmittel zu verschaffen, durch¬
suchte zu dem Ende die Magazine und fand da Brod und dürren Zwieback, so
daß ich damit die Leute einigermaßen sättigen konnte. Inzwischen drangen un-
vermuthet Massen russischer Soldaten ein. Unsere Leute sahen sich dadurch ge¬
nöthigt, über Hals und Kopf nach dem entgegengesetzten Thore zu eilen und
die Flucht zu ergreifen. Auch ich war unter den Fliehenden, beordert, mit
unseren Wagen hinauszurücken und vor dem Thore zu halten. Als nämlich
unser Bataillonschef, der Oberst v. G., indem er uns am Morgen vor dem
Abmärsche auf dem Markte in Wilna musterte, mich noch als den einzigen
Fourier uuter den Ueberbleibseln der Brigade erblickte, rief er mich mit den
den Worten an: "Was Teufel machen Sie noch da, Sie Bibelhusar? Eilen
Sie, daß Sie mit der Kriegskasse, die jetzt vor das Thor abgeht, fortkommen!
der Feldwebel wird schon mit dem Neste der Compagnie fertig werden." Mein
Herz trieb mich, noch von einigen Offizieren, die krank mit erfrorenen Gliedern
zurückbleiben mußten, Abschied zu nehmen. Nachdem dies geschehen, besprach
ich mich noch kurz mit dem Feldwebel K. über die Angelegenheiten der Compa¬
gnie (wir hatten keinen Offizier mehr bei derselben) und eilte darauf dem Ba¬
taillonswagen nach.



Nach Theils; a. a. O. S. 21 fig. war das Regiment "durch die gräßliche Kälte
und durch die Nachtmärsche von 1S00 Mann ans höchsten MV zusammengeschmolzen". Ueber
die Vorgänge in Wilna vgl. die "Rückblicke auf die Kricgsoperationcn der Russischen und
Französischen Seitenarmccn im Feldzuge von 1812" in der "Minerva" (Jena, 1317.) 2. Bd.

Rückzüge befand. Theils lief ich, um nicht dnrch andere zum Zurückbleiben ge¬
nöthigt zu werden, allein, indem ich noch Kräfte dazu fühlte; theils wanderte
ich mit Franzosen, die mich mit ihrer, auch durch das Grauenvolle ihrer Lage
uicht zu unterdrückenden guten Laune anzogen und aufheiterten. Bei dieser
Gelegenheit zeigte sich auch die Eigenthümlichkeit der Menschen, wonach sie auch
in der verzweifeltsten Lage vor allem um ihr Geld besorgt sind. Nicht wenigen
von den Militärs, die aus Moskau und dortiger Gegeud gekommen waren und
viel Geld hatten, klapperten während des Gehens die erfrorenen Hände wie
Nüsse. Gleichwohl suchten sie mit diesen knochenartigen Gliedern ihren Reich¬
thum noch zu retten, indem sie ihn, nachdem er aus dem durchgewetzten Tor¬
nister gefallen war, wieder auflasen und verbargen.

Zwölf Stunden früher als die übrigen kam ich in Wilna an, ging in die
Synagoge und schlief unter den Kranken, durch deren Ausdünstung es hier
warm geworden war, einige Stunden. Am folgenden Morgen rückte der zu¬
sammengelaufene diseiplinlose Militärhaufe, ein Bild des Entsetzens, in die Stadt
ein; ich glaube nicht, daß von 10—12000 Mann, aus denen unsere Division
bestanden hatte, noch 1500 übrig waren.*) Sie wurden von wüthendem Hunger
gequält. Vor allem war ich bemüht, ihnen Lebensmittel zu verschaffen, durch¬
suchte zu dem Ende die Magazine und fand da Brod und dürren Zwieback, so
daß ich damit die Leute einigermaßen sättigen konnte. Inzwischen drangen un-
vermuthet Massen russischer Soldaten ein. Unsere Leute sahen sich dadurch ge¬
nöthigt, über Hals und Kopf nach dem entgegengesetzten Thore zu eilen und
die Flucht zu ergreifen. Auch ich war unter den Fliehenden, beordert, mit
unseren Wagen hinauszurücken und vor dem Thore zu halten. Als nämlich
unser Bataillonschef, der Oberst v. G., indem er uns am Morgen vor dem
Abmärsche auf dem Markte in Wilna musterte, mich noch als den einzigen
Fourier uuter den Ueberbleibseln der Brigade erblickte, rief er mich mit den
den Worten an: „Was Teufel machen Sie noch da, Sie Bibelhusar? Eilen
Sie, daß Sie mit der Kriegskasse, die jetzt vor das Thor abgeht, fortkommen!
der Feldwebel wird schon mit dem Neste der Compagnie fertig werden." Mein
Herz trieb mich, noch von einigen Offizieren, die krank mit erfrorenen Gliedern
zurückbleiben mußten, Abschied zu nehmen. Nachdem dies geschehen, besprach
ich mich noch kurz mit dem Feldwebel K. über die Angelegenheiten der Compa¬
gnie (wir hatten keinen Offizier mehr bei derselben) und eilte darauf dem Ba¬
taillonswagen nach.



Nach Theils; a. a. O. S. 21 fig. war das Regiment „durch die gräßliche Kälte
und durch die Nachtmärsche von 1S00 Mann ans höchsten MV zusammengeschmolzen". Ueber
die Vorgänge in Wilna vgl. die „Rückblicke auf die Kricgsoperationcn der Russischen und
Französischen Seitenarmccn im Feldzuge von 1812" in der „Minerva" (Jena, 1317.) 2. Bd.
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[0325] Rückzüge befand. Theils lief ich, um nicht dnrch andere zum Zurückbleiben ge¬ nöthigt zu werden, allein, indem ich noch Kräfte dazu fühlte; theils wanderte ich mit Franzosen, die mich mit ihrer, auch durch das Grauenvolle ihrer Lage uicht zu unterdrückenden guten Laune anzogen und aufheiterten. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich auch die Eigenthümlichkeit der Menschen, wonach sie auch in der verzweifeltsten Lage vor allem um ihr Geld besorgt sind. Nicht wenigen von den Militärs, die aus Moskau und dortiger Gegeud gekommen waren und viel Geld hatten, klapperten während des Gehens die erfrorenen Hände wie Nüsse. Gleichwohl suchten sie mit diesen knochenartigen Gliedern ihren Reich¬ thum noch zu retten, indem sie ihn, nachdem er aus dem durchgewetzten Tor¬ nister gefallen war, wieder auflasen und verbargen. Zwölf Stunden früher als die übrigen kam ich in Wilna an, ging in die Synagoge und schlief unter den Kranken, durch deren Ausdünstung es hier warm geworden war, einige Stunden. Am folgenden Morgen rückte der zu¬ sammengelaufene diseiplinlose Militärhaufe, ein Bild des Entsetzens, in die Stadt ein; ich glaube nicht, daß von 10—12000 Mann, aus denen unsere Division bestanden hatte, noch 1500 übrig waren.*) Sie wurden von wüthendem Hunger gequält. Vor allem war ich bemüht, ihnen Lebensmittel zu verschaffen, durch¬ suchte zu dem Ende die Magazine und fand da Brod und dürren Zwieback, so daß ich damit die Leute einigermaßen sättigen konnte. Inzwischen drangen un- vermuthet Massen russischer Soldaten ein. Unsere Leute sahen sich dadurch ge¬ nöthigt, über Hals und Kopf nach dem entgegengesetzten Thore zu eilen und die Flucht zu ergreifen. Auch ich war unter den Fliehenden, beordert, mit unseren Wagen hinauszurücken und vor dem Thore zu halten. Als nämlich unser Bataillonschef, der Oberst v. G., indem er uns am Morgen vor dem Abmärsche auf dem Markte in Wilna musterte, mich noch als den einzigen Fourier uuter den Ueberbleibseln der Brigade erblickte, rief er mich mit den den Worten an: „Was Teufel machen Sie noch da, Sie Bibelhusar? Eilen Sie, daß Sie mit der Kriegskasse, die jetzt vor das Thor abgeht, fortkommen! der Feldwebel wird schon mit dem Neste der Compagnie fertig werden." Mein Herz trieb mich, noch von einigen Offizieren, die krank mit erfrorenen Gliedern zurückbleiben mußten, Abschied zu nehmen. Nachdem dies geschehen, besprach ich mich noch kurz mit dem Feldwebel K. über die Angelegenheiten der Compa¬ gnie (wir hatten keinen Offizier mehr bei derselben) und eilte darauf dem Ba¬ taillonswagen nach. Nach Theils; a. a. O. S. 21 fig. war das Regiment „durch die gräßliche Kälte und durch die Nachtmärsche von 1S00 Mann ans höchsten MV zusammengeschmolzen". Ueber die Vorgänge in Wilna vgl. die „Rückblicke auf die Kricgsoperationcn der Russischen und Französischen Seitenarmccn im Feldzuge von 1812" in der „Minerva" (Jena, 1317.) 2. Bd.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/325>, abgerufen am 21.05.2024.