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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Der große (Lltschi.

Vor vierzehn Tagen meldete uns der Telegraph den am 14. August erfolgten
Tod eines englischen Staatsmannes, der nächst Palmerston und Peel wohl der
größte war, den Großbritannien in: Laufe der letzten fünfzig Jahre gesehen, und
der namentlich das Interesse seines Vaterlandes in der orientalischen Frage
Jahrzehnte hindurch in verständuißvollster Weise diplomatisch wahrzunehmen
gewußt hat. Lord Stratford de Redcliffe, der an jenem Sonnabend zu
Frank bei Tunbridge Wells in dem bei englischen Politikern üblichen hohen
Alter starb, war eine Persönlichkeit, die in dem Streite über die Gegenwart
und Zukunft der Türkei eine Hauptrolle gespielt hat und in Folge dessen von
der Geschichte unseres Jahrhunderts noch lange genannt werden wird, wenn
andere, die in den letzten Decennien als Aeteurs in jenem Drama die Blicke
auf sich lenkten, vergessen sein werden. Sein Name erinnert an die weite und
tiefe Kluft, die zwischen der jetzigen und der früheren britischen Politik in Sachen
der Pforte besteht, und von der man in gewissem Sinne sagen kann, sein Leben
habe sie überbrückt.

Es sind jetzt vierundvierzig Jahre her, seit Richard Cobden unter der
bescheidenen Firma eines Nanedsstsr NMulÄetsrsr mit seiner ersten Schrift
Ku8sie>. auftrat. Er stellte sich damit ausdrücklich und sehr entschieden der Be¬
wegung entgegen, welche, durch Urquhart angeregt, sich der gestimmten englischen
Presse in einem Rußland feindseligen Sinne bemächtigt hatte. Sympathien fin¬
den russischen Despotismus bewogen ihn nicht dazu; denn er verbarg nicht,
daß die republikanische Ordnung der Vereinigten Staaten seinem Geschmack am
meisten zusagte. Aber er glaubte gefunden zu haben, daß Rußland in dein
Stufengange der Gesittung, in Gesetzen und Einrichtungen weit höher stehe als
das ottomanische Reich. Würde, so schloß er, die russische Herrschaft von der
Newa an den Bosporus verpflanzt, so würde sich hier eine glänzende, europäi¬
sche Stadt erheben, in welcher Wissenschaft, Kunst und Handel blühen und von
welcher aus die sittigenden Mächte des Christenthums weithin wirksam werden


Grenzboten Hi. 18S0. 50
Der große (Lltschi.

Vor vierzehn Tagen meldete uns der Telegraph den am 14. August erfolgten
Tod eines englischen Staatsmannes, der nächst Palmerston und Peel wohl der
größte war, den Großbritannien in: Laufe der letzten fünfzig Jahre gesehen, und
der namentlich das Interesse seines Vaterlandes in der orientalischen Frage
Jahrzehnte hindurch in verständuißvollster Weise diplomatisch wahrzunehmen
gewußt hat. Lord Stratford de Redcliffe, der an jenem Sonnabend zu
Frank bei Tunbridge Wells in dem bei englischen Politikern üblichen hohen
Alter starb, war eine Persönlichkeit, die in dem Streite über die Gegenwart
und Zukunft der Türkei eine Hauptrolle gespielt hat und in Folge dessen von
der Geschichte unseres Jahrhunderts noch lange genannt werden wird, wenn
andere, die in den letzten Decennien als Aeteurs in jenem Drama die Blicke
auf sich lenkten, vergessen sein werden. Sein Name erinnert an die weite und
tiefe Kluft, die zwischen der jetzigen und der früheren britischen Politik in Sachen
der Pforte besteht, und von der man in gewissem Sinne sagen kann, sein Leben
habe sie überbrückt.

Es sind jetzt vierundvierzig Jahre her, seit Richard Cobden unter der
bescheidenen Firma eines Nanedsstsr NMulÄetsrsr mit seiner ersten Schrift
Ku8sie>. auftrat. Er stellte sich damit ausdrücklich und sehr entschieden der Be¬
wegung entgegen, welche, durch Urquhart angeregt, sich der gestimmten englischen
Presse in einem Rußland feindseligen Sinne bemächtigt hatte. Sympathien fin¬
den russischen Despotismus bewogen ihn nicht dazu; denn er verbarg nicht,
daß die republikanische Ordnung der Vereinigten Staaten seinem Geschmack am
meisten zusagte. Aber er glaubte gefunden zu haben, daß Rußland in dein
Stufengange der Gesittung, in Gesetzen und Einrichtungen weit höher stehe als
das ottomanische Reich. Würde, so schloß er, die russische Herrschaft von der
Newa an den Bosporus verpflanzt, so würde sich hier eine glänzende, europäi¬
sche Stadt erheben, in welcher Wissenschaft, Kunst und Handel blühen und von
welcher aus die sittigenden Mächte des Christenthums weithin wirksam werden


Grenzboten Hi. 18S0. 50
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[0390] Der große (Lltschi. Vor vierzehn Tagen meldete uns der Telegraph den am 14. August erfolgten Tod eines englischen Staatsmannes, der nächst Palmerston und Peel wohl der größte war, den Großbritannien in: Laufe der letzten fünfzig Jahre gesehen, und der namentlich das Interesse seines Vaterlandes in der orientalischen Frage Jahrzehnte hindurch in verständuißvollster Weise diplomatisch wahrzunehmen gewußt hat. Lord Stratford de Redcliffe, der an jenem Sonnabend zu Frank bei Tunbridge Wells in dem bei englischen Politikern üblichen hohen Alter starb, war eine Persönlichkeit, die in dem Streite über die Gegenwart und Zukunft der Türkei eine Hauptrolle gespielt hat und in Folge dessen von der Geschichte unseres Jahrhunderts noch lange genannt werden wird, wenn andere, die in den letzten Decennien als Aeteurs in jenem Drama die Blicke auf sich lenkten, vergessen sein werden. Sein Name erinnert an die weite und tiefe Kluft, die zwischen der jetzigen und der früheren britischen Politik in Sachen der Pforte besteht, und von der man in gewissem Sinne sagen kann, sein Leben habe sie überbrückt. Es sind jetzt vierundvierzig Jahre her, seit Richard Cobden unter der bescheidenen Firma eines Nanedsstsr NMulÄetsrsr mit seiner ersten Schrift Ku8sie>. auftrat. Er stellte sich damit ausdrücklich und sehr entschieden der Be¬ wegung entgegen, welche, durch Urquhart angeregt, sich der gestimmten englischen Presse in einem Rußland feindseligen Sinne bemächtigt hatte. Sympathien fin¬ den russischen Despotismus bewogen ihn nicht dazu; denn er verbarg nicht, daß die republikanische Ordnung der Vereinigten Staaten seinem Geschmack am meisten zusagte. Aber er glaubte gefunden zu haben, daß Rußland in dein Stufengange der Gesittung, in Gesetzen und Einrichtungen weit höher stehe als das ottomanische Reich. Würde, so schloß er, die russische Herrschaft von der Newa an den Bosporus verpflanzt, so würde sich hier eine glänzende, europäi¬ sche Stadt erheben, in welcher Wissenschaft, Kunst und Handel blühen und von welcher aus die sittigenden Mächte des Christenthums weithin wirksam werden Grenzboten Hi. 18S0. 50

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/390>, abgerufen am 30.04.2024.