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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Christenthum, Katholicismus und (Lultur.

Unter diesem Titel ist im Laufe dieses Jahres ein Buch erschienen,*) das
allgemeine Beachtung gefunden hat und, wie wir hinzufügen, mit gutem Grunde.
Das Thema, das der Verfasser behandelt, konnte sowohl anziehen wie abstoßen.
Betrifft es auch die Lebensfragen der Gegenwart und darf es auch insofern auf
ein weit verbreitetes Interesse rechnen, so ist es doch auf der anderen Seite
schon so oft erörtert worden, daß eine neue Bearbeitung eine gewisse Abspan¬
nung und Ermüdung der Leserkreise zu überwinden hat. Wenn dies dem Ver¬
fasser gelungen ist, so dürfen wir diesen Erfolg in erster Linie wohl dadurch
erklären, daß er nicht unter der Fahne irgend einer der gegenwärtig vorhan¬
denen Parteien kämpft; daß er vielmehr einen Standpunkt vertritt, der vielleicht
vor vierzig Jahren nicht selten war, jetzt aber nur sehr vereinzelt sich kundgiebt;
einen Standpunkt, der ihn mit den meisten augenblicklich maßgebenden Rich¬
tungen in Widerspruch bringt. Steht der Verfasser im entschiedensten Gegen¬
satze zum landläufigen Liberalisinus und hegt er für die conservative Partei
die meisten Sympathien, so ist es uns doch sehr zweifelhaft, ob die Grundvor¬
aussetzungen hier und dort dieselben sind. Um es mit eineck Worte zu sagen:
Der Verfasser gehört offenbar der rechten Seite der Schule Hegels an. Bei
uus ist Hegels Philosophie gegenwärtig nur noch für einen kleinen Kreis Ge¬
treuer giltig; anders in Italien, dem Vaterlande Raffaele Marianos, des
Verfassers unseres Buches. Hier ist, wenn wir richtig sehen, der Einfluß der
Hegelschen Philosophie ein größerer, wohl besonders in Folge der Wirksamkeit
Veras. Sollte diese unsere Erklärung die Besorgniß erwecken, in der Schrift
Marianos dem dialektischen Apparat der Hegelschen Philosophie zu begegnen,
der bei uns in Deutschland mit Recht in Mißeredit gekommen ist, so können
wir darüber den Leser vollkommen beruhigen; auch die Furcht vor einer ab-



*) Christenthum, Katholicismus und Cultur. Studien von Raffciele
Mariano. Aus dem Italienischen. Leipzig, Breitkopf 5 Härtel, 18S0.
Grenzboten III. 1880. K6
Christenthum, Katholicismus und (Lultur.

Unter diesem Titel ist im Laufe dieses Jahres ein Buch erschienen,*) das
allgemeine Beachtung gefunden hat und, wie wir hinzufügen, mit gutem Grunde.
Das Thema, das der Verfasser behandelt, konnte sowohl anziehen wie abstoßen.
Betrifft es auch die Lebensfragen der Gegenwart und darf es auch insofern auf
ein weit verbreitetes Interesse rechnen, so ist es doch auf der anderen Seite
schon so oft erörtert worden, daß eine neue Bearbeitung eine gewisse Abspan¬
nung und Ermüdung der Leserkreise zu überwinden hat. Wenn dies dem Ver¬
fasser gelungen ist, so dürfen wir diesen Erfolg in erster Linie wohl dadurch
erklären, daß er nicht unter der Fahne irgend einer der gegenwärtig vorhan¬
denen Parteien kämpft; daß er vielmehr einen Standpunkt vertritt, der vielleicht
vor vierzig Jahren nicht selten war, jetzt aber nur sehr vereinzelt sich kundgiebt;
einen Standpunkt, der ihn mit den meisten augenblicklich maßgebenden Rich¬
tungen in Widerspruch bringt. Steht der Verfasser im entschiedensten Gegen¬
satze zum landläufigen Liberalisinus und hegt er für die conservative Partei
die meisten Sympathien, so ist es uns doch sehr zweifelhaft, ob die Grundvor¬
aussetzungen hier und dort dieselben sind. Um es mit eineck Worte zu sagen:
Der Verfasser gehört offenbar der rechten Seite der Schule Hegels an. Bei
uus ist Hegels Philosophie gegenwärtig nur noch für einen kleinen Kreis Ge¬
treuer giltig; anders in Italien, dem Vaterlande Raffaele Marianos, des
Verfassers unseres Buches. Hier ist, wenn wir richtig sehen, der Einfluß der
Hegelschen Philosophie ein größerer, wohl besonders in Folge der Wirksamkeit
Veras. Sollte diese unsere Erklärung die Besorgniß erwecken, in der Schrift
Marianos dem dialektischen Apparat der Hegelschen Philosophie zu begegnen,
der bei uns in Deutschland mit Recht in Mißeredit gekommen ist, so können
wir darüber den Leser vollkommen beruhigen; auch die Furcht vor einer ab-



*) Christenthum, Katholicismus und Cultur. Studien von Raffciele
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[0514] Christenthum, Katholicismus und (Lultur. Unter diesem Titel ist im Laufe dieses Jahres ein Buch erschienen,*) das allgemeine Beachtung gefunden hat und, wie wir hinzufügen, mit gutem Grunde. Das Thema, das der Verfasser behandelt, konnte sowohl anziehen wie abstoßen. Betrifft es auch die Lebensfragen der Gegenwart und darf es auch insofern auf ein weit verbreitetes Interesse rechnen, so ist es doch auf der anderen Seite schon so oft erörtert worden, daß eine neue Bearbeitung eine gewisse Abspan¬ nung und Ermüdung der Leserkreise zu überwinden hat. Wenn dies dem Ver¬ fasser gelungen ist, so dürfen wir diesen Erfolg in erster Linie wohl dadurch erklären, daß er nicht unter der Fahne irgend einer der gegenwärtig vorhan¬ denen Parteien kämpft; daß er vielmehr einen Standpunkt vertritt, der vielleicht vor vierzig Jahren nicht selten war, jetzt aber nur sehr vereinzelt sich kundgiebt; einen Standpunkt, der ihn mit den meisten augenblicklich maßgebenden Rich¬ tungen in Widerspruch bringt. Steht der Verfasser im entschiedensten Gegen¬ satze zum landläufigen Liberalisinus und hegt er für die conservative Partei die meisten Sympathien, so ist es uns doch sehr zweifelhaft, ob die Grundvor¬ aussetzungen hier und dort dieselben sind. Um es mit eineck Worte zu sagen: Der Verfasser gehört offenbar der rechten Seite der Schule Hegels an. Bei uus ist Hegels Philosophie gegenwärtig nur noch für einen kleinen Kreis Ge¬ treuer giltig; anders in Italien, dem Vaterlande Raffaele Marianos, des Verfassers unseres Buches. Hier ist, wenn wir richtig sehen, der Einfluß der Hegelschen Philosophie ein größerer, wohl besonders in Folge der Wirksamkeit Veras. Sollte diese unsere Erklärung die Besorgniß erwecken, in der Schrift Marianos dem dialektischen Apparat der Hegelschen Philosophie zu begegnen, der bei uns in Deutschland mit Recht in Mißeredit gekommen ist, so können wir darüber den Leser vollkommen beruhigen; auch die Furcht vor einer ab- *) Christenthum, Katholicismus und Cultur. Studien von Raffciele Mariano. Aus dem Italienischen. Leipzig, Breitkopf 5 Härtel, 18S0. Grenzboten III. 1880. K6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/514>, abgerufen am 30.04.2024.