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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Julius Mosen.

le raschlebende und schnell vergessende Gegenwart muß von Zeit zu
Zeit an die literarischen Entwicklungen, welche dem Experimental¬
roman Monsieur Zolas und dem pikanten Feuilleton Spitzers und
Stettenheims vorausgegangen sind, erinnert werden, und doch liebt
sie es nicht, daß man derartige meist unbequeme Erinnerungen
frisch vom Zaune breche. In solchem Falle bieten die Gesammtausgaben neuerer
Schriftsteller, welche sich mehren (wir sagen erfreulich mehren, obschon unver¬
meidlicherweise die "sämmtlichen Werke" eines und des andern mit unterlaufen,
der wahrlich kein Recht hat, seine schriftstellerischen Erzeugnisse vereinigt darzu¬
bieten!) dem Freunde der Literatur willkommnen Anlaß, vergangener Tage zu
gedenken und Eutwicklungsmomente zu besprechen, welche auch für die Gegen¬
wart noch Bedeutuug haben.

Vor einigen Wochen ist eine "neue vermehrte und durch eine Biographie
des Dichters von dem Sohne desselben (Dr. Reinhard Mosen in Oldenburg)
bereicherte" Auflage der sämmtlichen Werke von Julius Mosen er¬
schienen"), welche die lyrischen, epischen und dramatischen Dichtungen dieses her¬
vorragenden und in seiner Weise hochinteressanter Poeten der dreißiger und
vierziger Jahre weitern Kreisen des Publicums darbietet. Es ist in diesem
Falle unnöthig besonders zu betonen, daß Mosen durchaus zu jenen Dichtern
gehört, bei denen eine Gesammtausgabe gefordert werden müßte, wenn sie nicht
schon zur letzten Erquickung des schwergeprüften Mannes bei seinen Lebzeiten
zu Stande gekommen wäre und daß wir die Thatsache einer zweiten Gesammt¬
ausgabe mit besonderer Genugthuung begrüßen. Nicht alle in diesen sechs
Bänden vereinigten Dichtungen Mosers gewähren gleich reinen poetischen Ge¬
nuß und haben gleiche künstlerische Bedeutung zu beanspruchen; alle aber sind
Schöpfungen eines Talents, das auch da, wo es Zeitirrthümern unterlag oder
Stoffe ergriff, welche seinem eigensten Leben und seiner besondern Gestaltungs¬
kraft nicht günstig entgegenkamen, den Adel einer reinen Empfindung und einer
großen Kunstauffassung bewährte.

Die Entwicklungsgeschichte Mosers ist kein unwichtiger Beitrag zur Ge¬
schichte der neuern deutschen Dichtung in einem bedeutsamen Wendepunkte, und
in diesem Sinne ist es zu beklagen, daß weder die "autobiographischen Erinne-



*) Sämmtliche Werke von Julius Mosen. Mit Mosers Porträt. Sechs Bände.
Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1380.
Julius Mosen.

le raschlebende und schnell vergessende Gegenwart muß von Zeit zu
Zeit an die literarischen Entwicklungen, welche dem Experimental¬
roman Monsieur Zolas und dem pikanten Feuilleton Spitzers und
Stettenheims vorausgegangen sind, erinnert werden, und doch liebt
sie es nicht, daß man derartige meist unbequeme Erinnerungen
frisch vom Zaune breche. In solchem Falle bieten die Gesammtausgaben neuerer
Schriftsteller, welche sich mehren (wir sagen erfreulich mehren, obschon unver¬
meidlicherweise die „sämmtlichen Werke" eines und des andern mit unterlaufen,
der wahrlich kein Recht hat, seine schriftstellerischen Erzeugnisse vereinigt darzu¬
bieten!) dem Freunde der Literatur willkommnen Anlaß, vergangener Tage zu
gedenken und Eutwicklungsmomente zu besprechen, welche auch für die Gegen¬
wart noch Bedeutuug haben.

Vor einigen Wochen ist eine „neue vermehrte und durch eine Biographie
des Dichters von dem Sohne desselben (Dr. Reinhard Mosen in Oldenburg)
bereicherte" Auflage der sämmtlichen Werke von Julius Mosen er¬
schienen"), welche die lyrischen, epischen und dramatischen Dichtungen dieses her¬
vorragenden und in seiner Weise hochinteressanter Poeten der dreißiger und
vierziger Jahre weitern Kreisen des Publicums darbietet. Es ist in diesem
Falle unnöthig besonders zu betonen, daß Mosen durchaus zu jenen Dichtern
gehört, bei denen eine Gesammtausgabe gefordert werden müßte, wenn sie nicht
schon zur letzten Erquickung des schwergeprüften Mannes bei seinen Lebzeiten
zu Stande gekommen wäre und daß wir die Thatsache einer zweiten Gesammt¬
ausgabe mit besonderer Genugthuung begrüßen. Nicht alle in diesen sechs
Bänden vereinigten Dichtungen Mosers gewähren gleich reinen poetischen Ge¬
nuß und haben gleiche künstlerische Bedeutung zu beanspruchen; alle aber sind
Schöpfungen eines Talents, das auch da, wo es Zeitirrthümern unterlag oder
Stoffe ergriff, welche seinem eigensten Leben und seiner besondern Gestaltungs¬
kraft nicht günstig entgegenkamen, den Adel einer reinen Empfindung und einer
großen Kunstauffassung bewährte.

Die Entwicklungsgeschichte Mosers ist kein unwichtiger Beitrag zur Ge¬
schichte der neuern deutschen Dichtung in einem bedeutsamen Wendepunkte, und
in diesem Sinne ist es zu beklagen, daß weder die „autobiographischen Erinne-



*) Sämmtliche Werke von Julius Mosen. Mit Mosers Porträt. Sechs Bände.
Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1380.
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[0019] Julius Mosen. le raschlebende und schnell vergessende Gegenwart muß von Zeit zu Zeit an die literarischen Entwicklungen, welche dem Experimental¬ roman Monsieur Zolas und dem pikanten Feuilleton Spitzers und Stettenheims vorausgegangen sind, erinnert werden, und doch liebt sie es nicht, daß man derartige meist unbequeme Erinnerungen frisch vom Zaune breche. In solchem Falle bieten die Gesammtausgaben neuerer Schriftsteller, welche sich mehren (wir sagen erfreulich mehren, obschon unver¬ meidlicherweise die „sämmtlichen Werke" eines und des andern mit unterlaufen, der wahrlich kein Recht hat, seine schriftstellerischen Erzeugnisse vereinigt darzu¬ bieten!) dem Freunde der Literatur willkommnen Anlaß, vergangener Tage zu gedenken und Eutwicklungsmomente zu besprechen, welche auch für die Gegen¬ wart noch Bedeutuug haben. Vor einigen Wochen ist eine „neue vermehrte und durch eine Biographie des Dichters von dem Sohne desselben (Dr. Reinhard Mosen in Oldenburg) bereicherte" Auflage der sämmtlichen Werke von Julius Mosen er¬ schienen"), welche die lyrischen, epischen und dramatischen Dichtungen dieses her¬ vorragenden und in seiner Weise hochinteressanter Poeten der dreißiger und vierziger Jahre weitern Kreisen des Publicums darbietet. Es ist in diesem Falle unnöthig besonders zu betonen, daß Mosen durchaus zu jenen Dichtern gehört, bei denen eine Gesammtausgabe gefordert werden müßte, wenn sie nicht schon zur letzten Erquickung des schwergeprüften Mannes bei seinen Lebzeiten zu Stande gekommen wäre und daß wir die Thatsache einer zweiten Gesammt¬ ausgabe mit besonderer Genugthuung begrüßen. Nicht alle in diesen sechs Bänden vereinigten Dichtungen Mosers gewähren gleich reinen poetischen Ge¬ nuß und haben gleiche künstlerische Bedeutung zu beanspruchen; alle aber sind Schöpfungen eines Talents, das auch da, wo es Zeitirrthümern unterlag oder Stoffe ergriff, welche seinem eigensten Leben und seiner besondern Gestaltungs¬ kraft nicht günstig entgegenkamen, den Adel einer reinen Empfindung und einer großen Kunstauffassung bewährte. Die Entwicklungsgeschichte Mosers ist kein unwichtiger Beitrag zur Ge¬ schichte der neuern deutschen Dichtung in einem bedeutsamen Wendepunkte, und in diesem Sinne ist es zu beklagen, daß weder die „autobiographischen Erinne- *) Sämmtliche Werke von Julius Mosen. Mit Mosers Porträt. Sechs Bände. Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1380.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/19>, abgerufen am 29.04.2024.