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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessingstudien. °")
von Gustav Buchholz.
2. Die Katastrophe in der Lulua Galotti,

le Ergebnisse, zu welchen die vorangehende Untersuchung über
Lessings Theorie von: Dramen geführt hat, werden -- so hoffe ich --
dem Dichter Lessing zu gute kommen. Ich gedenke sie auf die
Beurtheilung seiner "Emilia Galotti" zu übertragen.

Soll ich diesen Versuch erst rechtfertige"? Soll ich von neuem
darauf hinweisen, was längst eine ausgetretene Weisheit unsrer literarhistorischen
Abe-Bücher ist und was Lesstng selbst mehr als einmal betont hat, daß bei ihn:
stets die kritische Einsicht dem dichterischen Schaffen vorausging, daß die eine
das andere bedingte und recht eigentlich befruchtete? Soll ich auch noch zeige",
wie die Hamburgische Dramaturgie und "Emilia Galotti" in ihrem Verhältniß
zu einander von dieser Regel keine Ausnahme machen? Ich erlasse dein Leser
und mir diese Ausführungen und wende mich sofort meinem Gegenstande zu.

Ueber das Trauerspiel "Emilia Galotti" siud die Ansichten, wie es scheint,
jetzt endlich zur Ruhe gekommen. An Lob und Bewunderung fehlt es den: Stücke
gewiß nicht. Und auf wen konnte es auch des packenden Eindrucks verfehlen?
Eine natürliche und wieder so gedankenschwere nud tiefsinnige Sprache, el" knapper,
gedrungner Dialog, feine Nüancirnng der Charakterzeichnung, bis ins einzelnste
gehende Motivirung und kunstvoller Aufbau der Entwicklung, dabei auf düsterm
politischen Hintergrunde ein leidenschaftliches Vorwärtsdrängen der Handlung --
das ist so ungefähr die Summe der Schlagworte, in denen sich das Lob des
Lessingschen Meisterwerkes erschöpft. Wenn nur nicht den Schluß alles Lobens
und Preisens stets ein lcmgezogenes Aber bildete, um eine Reihe von Einwürfen
und Zweifeln einzuleiten, welche den Werth des ganzen Stückes in Frage stellen!

Die Katastrophe der "Emilia Galotti" ist es, welche einer fast einstimmigen
Verurtheilung unterliegt. Sie verletzt unsre moralische Empfindung überhaupt
und ohne alle Frage, versichert W. Dilthey (Preuß. Jahrbücher 1867, XIX,
S. 280), sie charakterisirt sich durch Willkür in den sittlichen Gesichtspunkten
und nervöse Unsicherheit, belehrt uns Freytag (Technik des Dramas, S. 221),
wir empfinden vor ihr, wie der Sinn unsers Volks seitdem herzhafter und
stolzer geworden, urtheilt Treitschke (Histvr. und polie. Aufsätze. N. F. II. 646),



*) Zur Steno'fcKr von Lessings Todestag
Lessingstudien. °")
von Gustav Buchholz.
2. Die Katastrophe in der Lulua Galotti,

le Ergebnisse, zu welchen die vorangehende Untersuchung über
Lessings Theorie von: Dramen geführt hat, werden — so hoffe ich —
dem Dichter Lessing zu gute kommen. Ich gedenke sie auf die
Beurtheilung seiner „Emilia Galotti" zu übertragen.

Soll ich diesen Versuch erst rechtfertige»? Soll ich von neuem
darauf hinweisen, was längst eine ausgetretene Weisheit unsrer literarhistorischen
Abe-Bücher ist und was Lesstng selbst mehr als einmal betont hat, daß bei ihn:
stets die kritische Einsicht dem dichterischen Schaffen vorausging, daß die eine
das andere bedingte und recht eigentlich befruchtete? Soll ich auch noch zeige»,
wie die Hamburgische Dramaturgie und „Emilia Galotti" in ihrem Verhältniß
zu einander von dieser Regel keine Ausnahme machen? Ich erlasse dein Leser
und mir diese Ausführungen und wende mich sofort meinem Gegenstande zu.

Ueber das Trauerspiel „Emilia Galotti" siud die Ansichten, wie es scheint,
jetzt endlich zur Ruhe gekommen. An Lob und Bewunderung fehlt es den: Stücke
gewiß nicht. Und auf wen konnte es auch des packenden Eindrucks verfehlen?
Eine natürliche und wieder so gedankenschwere nud tiefsinnige Sprache, el» knapper,
gedrungner Dialog, feine Nüancirnng der Charakterzeichnung, bis ins einzelnste
gehende Motivirung und kunstvoller Aufbau der Entwicklung, dabei auf düsterm
politischen Hintergrunde ein leidenschaftliches Vorwärtsdrängen der Handlung —
das ist so ungefähr die Summe der Schlagworte, in denen sich das Lob des
Lessingschen Meisterwerkes erschöpft. Wenn nur nicht den Schluß alles Lobens
und Preisens stets ein lcmgezogenes Aber bildete, um eine Reihe von Einwürfen
und Zweifeln einzuleiten, welche den Werth des ganzen Stückes in Frage stellen!

Die Katastrophe der „Emilia Galotti" ist es, welche einer fast einstimmigen
Verurtheilung unterliegt. Sie verletzt unsre moralische Empfindung überhaupt
und ohne alle Frage, versichert W. Dilthey (Preuß. Jahrbücher 1867, XIX,
S. 280), sie charakterisirt sich durch Willkür in den sittlichen Gesichtspunkten
und nervöse Unsicherheit, belehrt uns Freytag (Technik des Dramas, S. 221),
wir empfinden vor ihr, wie der Sinn unsers Volks seitdem herzhafter und
stolzer geworden, urtheilt Treitschke (Histvr. und polie. Aufsätze. N. F. II. 646),



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[0301] Lessingstudien. °") von Gustav Buchholz. 2. Die Katastrophe in der Lulua Galotti, le Ergebnisse, zu welchen die vorangehende Untersuchung über Lessings Theorie von: Dramen geführt hat, werden — so hoffe ich — dem Dichter Lessing zu gute kommen. Ich gedenke sie auf die Beurtheilung seiner „Emilia Galotti" zu übertragen. Soll ich diesen Versuch erst rechtfertige»? Soll ich von neuem darauf hinweisen, was längst eine ausgetretene Weisheit unsrer literarhistorischen Abe-Bücher ist und was Lesstng selbst mehr als einmal betont hat, daß bei ihn: stets die kritische Einsicht dem dichterischen Schaffen vorausging, daß die eine das andere bedingte und recht eigentlich befruchtete? Soll ich auch noch zeige», wie die Hamburgische Dramaturgie und „Emilia Galotti" in ihrem Verhältniß zu einander von dieser Regel keine Ausnahme machen? Ich erlasse dein Leser und mir diese Ausführungen und wende mich sofort meinem Gegenstande zu. Ueber das Trauerspiel „Emilia Galotti" siud die Ansichten, wie es scheint, jetzt endlich zur Ruhe gekommen. An Lob und Bewunderung fehlt es den: Stücke gewiß nicht. Und auf wen konnte es auch des packenden Eindrucks verfehlen? Eine natürliche und wieder so gedankenschwere nud tiefsinnige Sprache, el» knapper, gedrungner Dialog, feine Nüancirnng der Charakterzeichnung, bis ins einzelnste gehende Motivirung und kunstvoller Aufbau der Entwicklung, dabei auf düsterm politischen Hintergrunde ein leidenschaftliches Vorwärtsdrängen der Handlung — das ist so ungefähr die Summe der Schlagworte, in denen sich das Lob des Lessingschen Meisterwerkes erschöpft. Wenn nur nicht den Schluß alles Lobens und Preisens stets ein lcmgezogenes Aber bildete, um eine Reihe von Einwürfen und Zweifeln einzuleiten, welche den Werth des ganzen Stückes in Frage stellen! Die Katastrophe der „Emilia Galotti" ist es, welche einer fast einstimmigen Verurtheilung unterliegt. Sie verletzt unsre moralische Empfindung überhaupt und ohne alle Frage, versichert W. Dilthey (Preuß. Jahrbücher 1867, XIX, S. 280), sie charakterisirt sich durch Willkür in den sittlichen Gesichtspunkten und nervöse Unsicherheit, belehrt uns Freytag (Technik des Dramas, S. 221), wir empfinden vor ihr, wie der Sinn unsers Volks seitdem herzhafter und stolzer geworden, urtheilt Treitschke (Histvr. und polie. Aufsätze. N. F. II. 646), *) Zur Steno'fcKr von Lessings Todestag

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/301>, abgerufen am 28.04.2024.