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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessingstudie",

sic läßt das Strafgericht der Geschichte vermissen, wenn die Edlen geopfert sind
und die Verbrecher leben bleiben, klagt Carriere (Die Kunst im Zusammen¬
hange der Culturentw. V, S, 220), sie wird äußerlich durch boshafte Intrigue
herbeigeführt, nicht durch die innern Kämpfe der Leidenschaft, behauptet Hettner
(a. a, O., S. 634), sie versündigt sich an der Reinheit jungfräulicher Natur
und gegen die Wahrheit jungfräulicher Empfindung, ja sic allein berechtigt uns
-- ruft Michael Bernahs kühnlich aus (Morgenblatt 1864, S. 295) -- Lessing
den Namen eines Dichters abzusprechen. Alle diese Männer, wie weit im ein¬
zelnen ihre Anschauungen auseinandergehen mögen, und mit ihnen ein zahlreicher
Chorus gleich urtheilender, kommen darin überein, der Katastrophe des Stückes
eine höhere Berechtigung zu bestreiten, weil ihr die innere unabwendbare Noth¬
wendigkeit und Wahrheit fehle.

Und dieser Tadel ist nicht von gestern oder ehegestern. Er ist so alt wie
das Stück selbst. Schon am Tage nach der ersten Aufführung in Berlin schrieb
Nicolai an Lessing (7. April 1772): "Viele haben es nicht begreifen können
und halten es für unnatürlich, daß der Vater seine geliebte Tochter bloß aus
Besorgniß der Verführung erstechen könne." Und der Wandsbecker Bote, der
brave Matthias Claudius, dem das Stück "sonderlich" gefallen hatte, konnte
nicht umhin, von der Schlußeutwickluug zu sagen: "Ein Ding hab ich nicht
recht in den Kopf bringen können, wie nämlich die Emilia so zu sagen bei der
Leiche ihres Appiani an ihre Verführung durch einen andern Mann und an
ihr warmes Blut denken konnte. Mich dünkt, ich hätt' an ihrer Stelle nackt
durch'n Heer der wollüstigsten Teufel gehen wollen, und keiner hätt' es wagen
sollen, mich anzurühren."*)

Gewiß, dieses einstimmige Urtheil alter und neuer Zeit zu unterschätzen
wäre vermessen, und ich will nicht leugnen, daß es auf den verwundbaren Punkt
des Dramas abzielt. Aber das leugne ich, daß es diesen Punkt auch wirklich
trifft, ich leugne, daß die Katastrophe nicht in der Anlage des Stückes und in den
Charakter" der handelnden Personen, so wie sie von Lessing gedacht sind, ihre
Begründung findet, und, wenn das erwiesen ist, so leugne ich anch, daß sie
unser sittliches Gefühl verletzt. Ob damit das ganze Stück vor jedem Einwurf
sicher gestellt ist, mag einstweilen noch unentschieden bleiben.

Die vorangehende Untersuchung hat gezeigt, daß Lessing allerdings ans
das Mitleid die ganze Wirkung des Dramas gebaut hat, daß ihm aber eben
dieses Mitleid ohne eine Schuld des Helden nicht möglich erscheint, ja daß er
verlangt, das Leiden solle zu dieser Schuld in Proportion stehen. Diese Er¬
kenntniß ist für die Würdigung der "Emilia Galotti" grundlegend. Niemand
"



*) Claudius, Werke. Gotha 1879. I, 99.
Lessingstudie»,

sic läßt das Strafgericht der Geschichte vermissen, wenn die Edlen geopfert sind
und die Verbrecher leben bleiben, klagt Carriere (Die Kunst im Zusammen¬
hange der Culturentw. V, S, 220), sie wird äußerlich durch boshafte Intrigue
herbeigeführt, nicht durch die innern Kämpfe der Leidenschaft, behauptet Hettner
(a. a, O., S. 634), sie versündigt sich an der Reinheit jungfräulicher Natur
und gegen die Wahrheit jungfräulicher Empfindung, ja sic allein berechtigt uns
— ruft Michael Bernahs kühnlich aus (Morgenblatt 1864, S. 295) — Lessing
den Namen eines Dichters abzusprechen. Alle diese Männer, wie weit im ein¬
zelnen ihre Anschauungen auseinandergehen mögen, und mit ihnen ein zahlreicher
Chorus gleich urtheilender, kommen darin überein, der Katastrophe des Stückes
eine höhere Berechtigung zu bestreiten, weil ihr die innere unabwendbare Noth¬
wendigkeit und Wahrheit fehle.

Und dieser Tadel ist nicht von gestern oder ehegestern. Er ist so alt wie
das Stück selbst. Schon am Tage nach der ersten Aufführung in Berlin schrieb
Nicolai an Lessing (7. April 1772): „Viele haben es nicht begreifen können
und halten es für unnatürlich, daß der Vater seine geliebte Tochter bloß aus
Besorgniß der Verführung erstechen könne." Und der Wandsbecker Bote, der
brave Matthias Claudius, dem das Stück „sonderlich" gefallen hatte, konnte
nicht umhin, von der Schlußeutwickluug zu sagen: „Ein Ding hab ich nicht
recht in den Kopf bringen können, wie nämlich die Emilia so zu sagen bei der
Leiche ihres Appiani an ihre Verführung durch einen andern Mann und an
ihr warmes Blut denken konnte. Mich dünkt, ich hätt' an ihrer Stelle nackt
durch'n Heer der wollüstigsten Teufel gehen wollen, und keiner hätt' es wagen
sollen, mich anzurühren."*)

Gewiß, dieses einstimmige Urtheil alter und neuer Zeit zu unterschätzen
wäre vermessen, und ich will nicht leugnen, daß es auf den verwundbaren Punkt
des Dramas abzielt. Aber das leugne ich, daß es diesen Punkt auch wirklich
trifft, ich leugne, daß die Katastrophe nicht in der Anlage des Stückes und in den
Charakter» der handelnden Personen, so wie sie von Lessing gedacht sind, ihre
Begründung findet, und, wenn das erwiesen ist, so leugne ich anch, daß sie
unser sittliches Gefühl verletzt. Ob damit das ganze Stück vor jedem Einwurf
sicher gestellt ist, mag einstweilen noch unentschieden bleiben.

Die vorangehende Untersuchung hat gezeigt, daß Lessing allerdings ans
das Mitleid die ganze Wirkung des Dramas gebaut hat, daß ihm aber eben
dieses Mitleid ohne eine Schuld des Helden nicht möglich erscheint, ja daß er
verlangt, das Leiden solle zu dieser Schuld in Proportion stehen. Diese Er¬
kenntniß ist für die Würdigung der „Emilia Galotti" grundlegend. Niemand
"



*) Claudius, Werke. Gotha 1879. I, 99.
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[0302] Lessingstudie», sic läßt das Strafgericht der Geschichte vermissen, wenn die Edlen geopfert sind und die Verbrecher leben bleiben, klagt Carriere (Die Kunst im Zusammen¬ hange der Culturentw. V, S, 220), sie wird äußerlich durch boshafte Intrigue herbeigeführt, nicht durch die innern Kämpfe der Leidenschaft, behauptet Hettner (a. a, O., S. 634), sie versündigt sich an der Reinheit jungfräulicher Natur und gegen die Wahrheit jungfräulicher Empfindung, ja sic allein berechtigt uns — ruft Michael Bernahs kühnlich aus (Morgenblatt 1864, S. 295) — Lessing den Namen eines Dichters abzusprechen. Alle diese Männer, wie weit im ein¬ zelnen ihre Anschauungen auseinandergehen mögen, und mit ihnen ein zahlreicher Chorus gleich urtheilender, kommen darin überein, der Katastrophe des Stückes eine höhere Berechtigung zu bestreiten, weil ihr die innere unabwendbare Noth¬ wendigkeit und Wahrheit fehle. Und dieser Tadel ist nicht von gestern oder ehegestern. Er ist so alt wie das Stück selbst. Schon am Tage nach der ersten Aufführung in Berlin schrieb Nicolai an Lessing (7. April 1772): „Viele haben es nicht begreifen können und halten es für unnatürlich, daß der Vater seine geliebte Tochter bloß aus Besorgniß der Verführung erstechen könne." Und der Wandsbecker Bote, der brave Matthias Claudius, dem das Stück „sonderlich" gefallen hatte, konnte nicht umhin, von der Schlußeutwickluug zu sagen: „Ein Ding hab ich nicht recht in den Kopf bringen können, wie nämlich die Emilia so zu sagen bei der Leiche ihres Appiani an ihre Verführung durch einen andern Mann und an ihr warmes Blut denken konnte. Mich dünkt, ich hätt' an ihrer Stelle nackt durch'n Heer der wollüstigsten Teufel gehen wollen, und keiner hätt' es wagen sollen, mich anzurühren."*) Gewiß, dieses einstimmige Urtheil alter und neuer Zeit zu unterschätzen wäre vermessen, und ich will nicht leugnen, daß es auf den verwundbaren Punkt des Dramas abzielt. Aber das leugne ich, daß es diesen Punkt auch wirklich trifft, ich leugne, daß die Katastrophe nicht in der Anlage des Stückes und in den Charakter» der handelnden Personen, so wie sie von Lessing gedacht sind, ihre Begründung findet, und, wenn das erwiesen ist, so leugne ich anch, daß sie unser sittliches Gefühl verletzt. Ob damit das ganze Stück vor jedem Einwurf sicher gestellt ist, mag einstweilen noch unentschieden bleiben. Die vorangehende Untersuchung hat gezeigt, daß Lessing allerdings ans das Mitleid die ganze Wirkung des Dramas gebaut hat, daß ihm aber eben dieses Mitleid ohne eine Schuld des Helden nicht möglich erscheint, ja daß er verlangt, das Leiden solle zu dieser Schuld in Proportion stehen. Diese Er¬ kenntniß ist für die Würdigung der „Emilia Galotti" grundlegend. Niemand " *) Claudius, Werke. Gotha 1879. I, 99.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/302>, abgerufen am 14.05.2024.