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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Lyrisches in Shakespeare.

War endlich die Stunde der Abfahrt für den sehnsüchtig harrenden Pilger
herangerückt, fo suchte er sich noch einmal ganz besonders zu stärken: er beichtete
und empfing -- meist im Kloster der heiligen Helene -- das Sacrament; dann
bestieg er das Schiff und ging der doch oft recht beschwerlichen Seereise getrost
entgegen.




lyrisches in Shakespeare.

e weniger uns von den Lebeusschickscilen des großen britischen
Dichters überliefert worden ist, desto mehr war man bemüht, den
Werken desselben ein möglichst lebensvolles Bild seiner Persönlich¬
keit abzugewinnen. Dies ist von den mannichfaltigsten Gesichts¬
punkten aus geschehen, obschon die dichterische Seite der Werke
immer das Wesentlichste bleiben mußte. Auch sie ließ jedoch eine sondernde
Betrachtung zu, zumal da Shakespeare außer seinen dramatischen Werken auch
einige lyrische und epische Dichtungen hinterlassen hat. Und da das Lyrische
und das Epische wieder die Grundelemente des Dramatischen bilden, so lag die
Frage nach der Bedeutung Shakespeares als lyrischer oder als epischer Dichter
nicht fern. Auch hat man derselben im einzelnen schon vielfach Aufmerksamkeit
zugewendet. Besonders haben die Forscher die in den Dramen des Dichters
zerstreut liegenden Lieder, Gesänge, Sprüche, Anspielungen und Anklänge auf
ihre Quellen zurückzuführen gesucht. Erst neuerdings aber ist unter Benutzung
dieser Ergebnisse die lyrische Seite der Shakespearischen Dichtung in einer eignen
Schrift: Lyrisches in Shakespeare von Wilhelm Stenerwald (München,
Theodor Ackermann, 1881) zum Gegenstande einer besondern Betrachtung ge¬
macht worden. Die Schrift zerfällt in zwei Theile, von denen der eine die
epischen und lyrischen Werke des Dichters, der andre die Dramen umfaßt.

Beide Gruppen stehen in einem, wie ich glaube, vom Verfasser nicht genügend
betonten Gegensatze zu einander, insofern die erstern ihrer Form nach ganz uuter
dem Einflüsse der Renaissaneedichtung entstanden sind und dieser daher völlig
mit angehören, die Dramen dagegen in beschränkter"! Umfange von ihr beein¬
flußt erscheinen. Aus dieser Thatsache erhellt allein schon, was übrigens nie¬
mals, auch von dem Autor der vorliegenden Schrift nicht, verkannt worden ist,
daß in Shakespeare der dramatische Dichter um vieles mächtiger war als der
lyrische oder epische, daß ersterer ungleich tiefer in der Individualität seiner
Natur, in seiner Eigenart wurzelte. Wenn daher Steuerwald es als deu Haupt-


Lyrisches in Shakespeare.

War endlich die Stunde der Abfahrt für den sehnsüchtig harrenden Pilger
herangerückt, fo suchte er sich noch einmal ganz besonders zu stärken: er beichtete
und empfing — meist im Kloster der heiligen Helene — das Sacrament; dann
bestieg er das Schiff und ging der doch oft recht beschwerlichen Seereise getrost
entgegen.




lyrisches in Shakespeare.

e weniger uns von den Lebeusschickscilen des großen britischen
Dichters überliefert worden ist, desto mehr war man bemüht, den
Werken desselben ein möglichst lebensvolles Bild seiner Persönlich¬
keit abzugewinnen. Dies ist von den mannichfaltigsten Gesichts¬
punkten aus geschehen, obschon die dichterische Seite der Werke
immer das Wesentlichste bleiben mußte. Auch sie ließ jedoch eine sondernde
Betrachtung zu, zumal da Shakespeare außer seinen dramatischen Werken auch
einige lyrische und epische Dichtungen hinterlassen hat. Und da das Lyrische
und das Epische wieder die Grundelemente des Dramatischen bilden, so lag die
Frage nach der Bedeutung Shakespeares als lyrischer oder als epischer Dichter
nicht fern. Auch hat man derselben im einzelnen schon vielfach Aufmerksamkeit
zugewendet. Besonders haben die Forscher die in den Dramen des Dichters
zerstreut liegenden Lieder, Gesänge, Sprüche, Anspielungen und Anklänge auf
ihre Quellen zurückzuführen gesucht. Erst neuerdings aber ist unter Benutzung
dieser Ergebnisse die lyrische Seite der Shakespearischen Dichtung in einer eignen
Schrift: Lyrisches in Shakespeare von Wilhelm Stenerwald (München,
Theodor Ackermann, 1881) zum Gegenstande einer besondern Betrachtung ge¬
macht worden. Die Schrift zerfällt in zwei Theile, von denen der eine die
epischen und lyrischen Werke des Dichters, der andre die Dramen umfaßt.

Beide Gruppen stehen in einem, wie ich glaube, vom Verfasser nicht genügend
betonten Gegensatze zu einander, insofern die erstern ihrer Form nach ganz uuter
dem Einflüsse der Renaissaneedichtung entstanden sind und dieser daher völlig
mit angehören, die Dramen dagegen in beschränkter»! Umfange von ihr beein¬
flußt erscheinen. Aus dieser Thatsache erhellt allein schon, was übrigens nie¬
mals, auch von dem Autor der vorliegenden Schrift nicht, verkannt worden ist,
daß in Shakespeare der dramatische Dichter um vieles mächtiger war als der
lyrische oder epische, daß ersterer ungleich tiefer in der Individualität seiner
Natur, in seiner Eigenart wurzelte. Wenn daher Steuerwald es als deu Haupt-


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[0250] Lyrisches in Shakespeare. War endlich die Stunde der Abfahrt für den sehnsüchtig harrenden Pilger herangerückt, fo suchte er sich noch einmal ganz besonders zu stärken: er beichtete und empfing — meist im Kloster der heiligen Helene — das Sacrament; dann bestieg er das Schiff und ging der doch oft recht beschwerlichen Seereise getrost entgegen. lyrisches in Shakespeare. e weniger uns von den Lebeusschickscilen des großen britischen Dichters überliefert worden ist, desto mehr war man bemüht, den Werken desselben ein möglichst lebensvolles Bild seiner Persönlich¬ keit abzugewinnen. Dies ist von den mannichfaltigsten Gesichts¬ punkten aus geschehen, obschon die dichterische Seite der Werke immer das Wesentlichste bleiben mußte. Auch sie ließ jedoch eine sondernde Betrachtung zu, zumal da Shakespeare außer seinen dramatischen Werken auch einige lyrische und epische Dichtungen hinterlassen hat. Und da das Lyrische und das Epische wieder die Grundelemente des Dramatischen bilden, so lag die Frage nach der Bedeutung Shakespeares als lyrischer oder als epischer Dichter nicht fern. Auch hat man derselben im einzelnen schon vielfach Aufmerksamkeit zugewendet. Besonders haben die Forscher die in den Dramen des Dichters zerstreut liegenden Lieder, Gesänge, Sprüche, Anspielungen und Anklänge auf ihre Quellen zurückzuführen gesucht. Erst neuerdings aber ist unter Benutzung dieser Ergebnisse die lyrische Seite der Shakespearischen Dichtung in einer eignen Schrift: Lyrisches in Shakespeare von Wilhelm Stenerwald (München, Theodor Ackermann, 1881) zum Gegenstande einer besondern Betrachtung ge¬ macht worden. Die Schrift zerfällt in zwei Theile, von denen der eine die epischen und lyrischen Werke des Dichters, der andre die Dramen umfaßt. Beide Gruppen stehen in einem, wie ich glaube, vom Verfasser nicht genügend betonten Gegensatze zu einander, insofern die erstern ihrer Form nach ganz uuter dem Einflüsse der Renaissaneedichtung entstanden sind und dieser daher völlig mit angehören, die Dramen dagegen in beschränkter»! Umfange von ihr beein¬ flußt erscheinen. Aus dieser Thatsache erhellt allein schon, was übrigens nie¬ mals, auch von dem Autor der vorliegenden Schrift nicht, verkannt worden ist, daß in Shakespeare der dramatische Dichter um vieles mächtiger war als der lyrische oder epische, daß ersterer ungleich tiefer in der Individualität seiner Natur, in seiner Eigenart wurzelte. Wenn daher Steuerwald es als deu Haupt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/250>, abgerufen am 28.04.2024.