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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die sociale Frage im Roman.

in Literatur- und Kulturgeschichte setzt bekanntlich für verflossene
Jahrhunderte viel kritisches Bemühen ein, die frühesten Spuren
großer Zeitbewegungen und Anschauungswandlungen in poetischen
Werken nachzuweisen und zieht oft zu weitgehende Folgerungen
aus ihren Entdeckungen. Die Tageskritik ist selten in der Lage,
die ersten Rückwirkungen bestimmter Tendenzen und Kämpfe auf die belletristische
Literatur im Gewirr so vieler Erscheinungen wahrzunehmen, und wenn wahr¬
zunehmen, consequent zu verfolgen. Und doch liegt es in der Natur der Poesie,
daß namentlich die Veränderung der Anschauungen, das tropfenweise Eindringen
neuer Elemente in die allgemeinen Ueberzeugungen am ehesten in der Poesie
und für unsre Zeit in Roman und Novelle, die ja zum Vehikel für alles dienen,
zu Tage treten müssen. Wir haben hierbei nicht die eigentliche grobe Tendcnz-
literatur im Auge, welche bewußtermaßen eine verzerrte und auf ganz andre
Dinge als auf literarische Wirkung berechnete Lebensdarstellnng unternimmt.
Diese Literatur mag dereinst ein historisches Interesse habe", ein ästhetisches
sür die Gegenwart hat sie gewiß nicht. Seit die "sociale Frage" bei uns in
Deutschland breit in den Vordergrund des nationalen Daseins getreten ist, seit
die socialistische Presse im Zusammenhange mit der socialdemokratischen Agitation
eine Ausbreitung gewonnen hat, von der nur traumselige Philister, nicht ge¬
sunde Beobachter der Dinge überrascht und bestürzt wurden, hat auch eine so¬
cialistische Belletristik in Vvlksroman und Schauspiel existirt. Die Feuilletons
der Parteizeitungen haben zu den Leitartikeln derselben "poetische" Illustrationen
geliefert. Daß diese gestimmte Belletristik -- soviel uns davon zu Gesicht ge¬
kommen -- leider wirkungsvoller als werthvoll war, daß sich in ihr eine un¬
sägliche Rohheit und Bildungslosigkeit, die scheinheiligste Brüderlichkeit neben
der uuverhülltesten Lüderlichkeit spreizten, daß die Fratze in der Charakteristik
und die triviale Phrase im Dialog herrschten, rechtfertigt es vollkommen, daß
die Tageskritik, soweit sie einen künstlerischen Standpunkt einnimmt und künst¬
lerische Maßstäbe anlegt, keine Notiz von ihr genommen hat. Die Zeitungen,
welche sich sonst gegen das Recht der Poesie sträuben und die gesammte Lite¬
ratur der Gegenwart nur als Annex zur politischen Bewegung ansehen, hätten
schon eher Anlaß gehabt, sich um den Wiederschein der neuen Tendenzen in
den rohen und flüchtigen Producten der socialdemokratischen Novellistik zu be¬
kümmern.

Seit einiger Zeit läßt sich eine neue Erscheinung beobachten. Die "sociale
Frage" wird von ernsteren und vor allem von ernster zu nehmenden, weil talent-


Die sociale Frage im Roman.

in Literatur- und Kulturgeschichte setzt bekanntlich für verflossene
Jahrhunderte viel kritisches Bemühen ein, die frühesten Spuren
großer Zeitbewegungen und Anschauungswandlungen in poetischen
Werken nachzuweisen und zieht oft zu weitgehende Folgerungen
aus ihren Entdeckungen. Die Tageskritik ist selten in der Lage,
die ersten Rückwirkungen bestimmter Tendenzen und Kämpfe auf die belletristische
Literatur im Gewirr so vieler Erscheinungen wahrzunehmen, und wenn wahr¬
zunehmen, consequent zu verfolgen. Und doch liegt es in der Natur der Poesie,
daß namentlich die Veränderung der Anschauungen, das tropfenweise Eindringen
neuer Elemente in die allgemeinen Ueberzeugungen am ehesten in der Poesie
und für unsre Zeit in Roman und Novelle, die ja zum Vehikel für alles dienen,
zu Tage treten müssen. Wir haben hierbei nicht die eigentliche grobe Tendcnz-
literatur im Auge, welche bewußtermaßen eine verzerrte und auf ganz andre
Dinge als auf literarische Wirkung berechnete Lebensdarstellnng unternimmt.
Diese Literatur mag dereinst ein historisches Interesse habe», ein ästhetisches
sür die Gegenwart hat sie gewiß nicht. Seit die „sociale Frage" bei uns in
Deutschland breit in den Vordergrund des nationalen Daseins getreten ist, seit
die socialistische Presse im Zusammenhange mit der socialdemokratischen Agitation
eine Ausbreitung gewonnen hat, von der nur traumselige Philister, nicht ge¬
sunde Beobachter der Dinge überrascht und bestürzt wurden, hat auch eine so¬
cialistische Belletristik in Vvlksroman und Schauspiel existirt. Die Feuilletons
der Parteizeitungen haben zu den Leitartikeln derselben „poetische" Illustrationen
geliefert. Daß diese gestimmte Belletristik — soviel uns davon zu Gesicht ge¬
kommen — leider wirkungsvoller als werthvoll war, daß sich in ihr eine un¬
sägliche Rohheit und Bildungslosigkeit, die scheinheiligste Brüderlichkeit neben
der uuverhülltesten Lüderlichkeit spreizten, daß die Fratze in der Charakteristik
und die triviale Phrase im Dialog herrschten, rechtfertigt es vollkommen, daß
die Tageskritik, soweit sie einen künstlerischen Standpunkt einnimmt und künst¬
lerische Maßstäbe anlegt, keine Notiz von ihr genommen hat. Die Zeitungen,
welche sich sonst gegen das Recht der Poesie sträuben und die gesammte Lite¬
ratur der Gegenwart nur als Annex zur politischen Bewegung ansehen, hätten
schon eher Anlaß gehabt, sich um den Wiederschein der neuen Tendenzen in
den rohen und flüchtigen Producten der socialdemokratischen Novellistik zu be¬
kümmern.

Seit einiger Zeit läßt sich eine neue Erscheinung beobachten. Die „sociale
Frage" wird von ernsteren und vor allem von ernster zu nehmenden, weil talent-


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[0034] Die sociale Frage im Roman. in Literatur- und Kulturgeschichte setzt bekanntlich für verflossene Jahrhunderte viel kritisches Bemühen ein, die frühesten Spuren großer Zeitbewegungen und Anschauungswandlungen in poetischen Werken nachzuweisen und zieht oft zu weitgehende Folgerungen aus ihren Entdeckungen. Die Tageskritik ist selten in der Lage, die ersten Rückwirkungen bestimmter Tendenzen und Kämpfe auf die belletristische Literatur im Gewirr so vieler Erscheinungen wahrzunehmen, und wenn wahr¬ zunehmen, consequent zu verfolgen. Und doch liegt es in der Natur der Poesie, daß namentlich die Veränderung der Anschauungen, das tropfenweise Eindringen neuer Elemente in die allgemeinen Ueberzeugungen am ehesten in der Poesie und für unsre Zeit in Roman und Novelle, die ja zum Vehikel für alles dienen, zu Tage treten müssen. Wir haben hierbei nicht die eigentliche grobe Tendcnz- literatur im Auge, welche bewußtermaßen eine verzerrte und auf ganz andre Dinge als auf literarische Wirkung berechnete Lebensdarstellnng unternimmt. Diese Literatur mag dereinst ein historisches Interesse habe», ein ästhetisches sür die Gegenwart hat sie gewiß nicht. Seit die „sociale Frage" bei uns in Deutschland breit in den Vordergrund des nationalen Daseins getreten ist, seit die socialistische Presse im Zusammenhange mit der socialdemokratischen Agitation eine Ausbreitung gewonnen hat, von der nur traumselige Philister, nicht ge¬ sunde Beobachter der Dinge überrascht und bestürzt wurden, hat auch eine so¬ cialistische Belletristik in Vvlksroman und Schauspiel existirt. Die Feuilletons der Parteizeitungen haben zu den Leitartikeln derselben „poetische" Illustrationen geliefert. Daß diese gestimmte Belletristik — soviel uns davon zu Gesicht ge¬ kommen — leider wirkungsvoller als werthvoll war, daß sich in ihr eine un¬ sägliche Rohheit und Bildungslosigkeit, die scheinheiligste Brüderlichkeit neben der uuverhülltesten Lüderlichkeit spreizten, daß die Fratze in der Charakteristik und die triviale Phrase im Dialog herrschten, rechtfertigt es vollkommen, daß die Tageskritik, soweit sie einen künstlerischen Standpunkt einnimmt und künst¬ lerische Maßstäbe anlegt, keine Notiz von ihr genommen hat. Die Zeitungen, welche sich sonst gegen das Recht der Poesie sträuben und die gesammte Lite¬ ratur der Gegenwart nur als Annex zur politischen Bewegung ansehen, hätten schon eher Anlaß gehabt, sich um den Wiederschein der neuen Tendenzen in den rohen und flüchtigen Producten der socialdemokratischen Novellistik zu be¬ kümmern. Seit einiger Zeit läßt sich eine neue Erscheinung beobachten. Die „sociale Frage" wird von ernsteren und vor allem von ernster zu nehmenden, weil talent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/34>, abgerufen am 28.04.2024.