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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Shakespeare in Frankreich.

beweisen, much hierfür nicht an Beispielen fehlt, sondern aus dem Gange und
der Entwicklung des Ganzen. So sind in "Richard III." sast alle Charaktere
von der tiefsten sittlichen Entartung ergriffen? Gewissenlosigkeit ist hier in der
That der entschiedenste Grundzug derselben, und doch hat der Dichter kaum noch
in einem andern Stücke mächtiger in das Gewissen der Hörer gegriffen, doch
ist fast in keinem andern die sittliche Ordnung, welche die Welt des Geistes be¬
herrscht, zu mächtigerer Darstellung gekommen.

Nach dem Untergange des romantischen Dramas, welches sich theils in
das Melodrama, theils durch die von Alfred de Musset begründete Mois xtmn-
t^tiqus ins sociale Drama verlief, mußte auch das Interesse für Shakespeare
wieder zurücktreten, zumal da der ganze Geist der Zeit demselben nicht günstig
war. Die liternrische Industrie, die geschäftliche Ausbeutung der Bühne, zu
denen schon Sende und Alexandre Dumas den Grund gelegt hatten, die immer
weiter um sich greifende materialistische und pessimistische Weltanschauung, ver¬
bunden mit der seit dem zweiten Kaiserreich immer allgemeiner und raffinirter
werdenden Genußsucht, die immer stärker hervortretenden, auch in das Drama
eindringenden socialen und socialistischen Tendenzen, sowie endlich der durch das
Aufblühen der Naturwissenschaften geförderte Naturalismus verlangten nach einer
andern Form, nach einem andern Inhalt des Dramas. Shakespeare war der
französische" Bühne, dein französischen Volke überhaupt nie das geworden, was
er uns Deutschen geworden ist, wird es ihnen auch schwerlich je werden.
Schon der Geist beider Sprachen ist hierzu viel zu verschieden. Andrerseits
wird man aber den Einfluß, den er in Frankreich ausgeübt und noch fortdauernd
ausübt, wenn er auch unmittelbar auf der Bühne jetzt nicht mehr bemerklich
sei" sollte, doch nicht unterschätzen dürfen. Shakespeare ist immerhin ein un¬
veräußerliches Besitzthum der französischen Bildung geworden, das von Tag zu
Tag in mehr Hände übergehen muß. Sein aus dem Dunkel der Jahrhunderte
heraufbeschworener Geist ist es vornehmlich gewesen, welcher das französische
Drama aus den Fesseln der akademischen Regeln, des scholastischen Conven-
tionalismus befreit und es dem nationalen Leben zurückgegeben hat. Denn wie
man auch über das heutige Drama der Franzosen urtheilen mag, so pulsirt
doch eignes, nationales Leben darin, so ist es doch aus dem Blute und dem
Geiste der Nation und der Zeit, wenn auch zugleich aus den Verirrungen beider
hervorgegangen. Wird es vielleicht wieder der Geist des Shakespearischen Dramas
sein, der es dereinst ans diesen zu neuem poetischen Leben emporrichten wird?




Shakespeare in Frankreich.

beweisen, much hierfür nicht an Beispielen fehlt, sondern aus dem Gange und
der Entwicklung des Ganzen. So sind in „Richard III." sast alle Charaktere
von der tiefsten sittlichen Entartung ergriffen? Gewissenlosigkeit ist hier in der
That der entschiedenste Grundzug derselben, und doch hat der Dichter kaum noch
in einem andern Stücke mächtiger in das Gewissen der Hörer gegriffen, doch
ist fast in keinem andern die sittliche Ordnung, welche die Welt des Geistes be¬
herrscht, zu mächtigerer Darstellung gekommen.

Nach dem Untergange des romantischen Dramas, welches sich theils in
das Melodrama, theils durch die von Alfred de Musset begründete Mois xtmn-
t^tiqus ins sociale Drama verlief, mußte auch das Interesse für Shakespeare
wieder zurücktreten, zumal da der ganze Geist der Zeit demselben nicht günstig
war. Die liternrische Industrie, die geschäftliche Ausbeutung der Bühne, zu
denen schon Sende und Alexandre Dumas den Grund gelegt hatten, die immer
weiter um sich greifende materialistische und pessimistische Weltanschauung, ver¬
bunden mit der seit dem zweiten Kaiserreich immer allgemeiner und raffinirter
werdenden Genußsucht, die immer stärker hervortretenden, auch in das Drama
eindringenden socialen und socialistischen Tendenzen, sowie endlich der durch das
Aufblühen der Naturwissenschaften geförderte Naturalismus verlangten nach einer
andern Form, nach einem andern Inhalt des Dramas. Shakespeare war der
französische» Bühne, dein französischen Volke überhaupt nie das geworden, was
er uns Deutschen geworden ist, wird es ihnen auch schwerlich je werden.
Schon der Geist beider Sprachen ist hierzu viel zu verschieden. Andrerseits
wird man aber den Einfluß, den er in Frankreich ausgeübt und noch fortdauernd
ausübt, wenn er auch unmittelbar auf der Bühne jetzt nicht mehr bemerklich
sei» sollte, doch nicht unterschätzen dürfen. Shakespeare ist immerhin ein un¬
veräußerliches Besitzthum der französischen Bildung geworden, das von Tag zu
Tag in mehr Hände übergehen muß. Sein aus dem Dunkel der Jahrhunderte
heraufbeschworener Geist ist es vornehmlich gewesen, welcher das französische
Drama aus den Fesseln der akademischen Regeln, des scholastischen Conven-
tionalismus befreit und es dem nationalen Leben zurückgegeben hat. Denn wie
man auch über das heutige Drama der Franzosen urtheilen mag, so pulsirt
doch eignes, nationales Leben darin, so ist es doch aus dem Blute und dem
Geiste der Nation und der Zeit, wenn auch zugleich aus den Verirrungen beider
hervorgegangen. Wird es vielleicht wieder der Geist des Shakespearischen Dramas
sein, der es dereinst ans diesen zu neuem poetischen Leben emporrichten wird?




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[0033] Shakespeare in Frankreich. beweisen, much hierfür nicht an Beispielen fehlt, sondern aus dem Gange und der Entwicklung des Ganzen. So sind in „Richard III." sast alle Charaktere von der tiefsten sittlichen Entartung ergriffen? Gewissenlosigkeit ist hier in der That der entschiedenste Grundzug derselben, und doch hat der Dichter kaum noch in einem andern Stücke mächtiger in das Gewissen der Hörer gegriffen, doch ist fast in keinem andern die sittliche Ordnung, welche die Welt des Geistes be¬ herrscht, zu mächtigerer Darstellung gekommen. Nach dem Untergange des romantischen Dramas, welches sich theils in das Melodrama, theils durch die von Alfred de Musset begründete Mois xtmn- t^tiqus ins sociale Drama verlief, mußte auch das Interesse für Shakespeare wieder zurücktreten, zumal da der ganze Geist der Zeit demselben nicht günstig war. Die liternrische Industrie, die geschäftliche Ausbeutung der Bühne, zu denen schon Sende und Alexandre Dumas den Grund gelegt hatten, die immer weiter um sich greifende materialistische und pessimistische Weltanschauung, ver¬ bunden mit der seit dem zweiten Kaiserreich immer allgemeiner und raffinirter werdenden Genußsucht, die immer stärker hervortretenden, auch in das Drama eindringenden socialen und socialistischen Tendenzen, sowie endlich der durch das Aufblühen der Naturwissenschaften geförderte Naturalismus verlangten nach einer andern Form, nach einem andern Inhalt des Dramas. Shakespeare war der französische» Bühne, dein französischen Volke überhaupt nie das geworden, was er uns Deutschen geworden ist, wird es ihnen auch schwerlich je werden. Schon der Geist beider Sprachen ist hierzu viel zu verschieden. Andrerseits wird man aber den Einfluß, den er in Frankreich ausgeübt und noch fortdauernd ausübt, wenn er auch unmittelbar auf der Bühne jetzt nicht mehr bemerklich sei» sollte, doch nicht unterschätzen dürfen. Shakespeare ist immerhin ein un¬ veräußerliches Besitzthum der französischen Bildung geworden, das von Tag zu Tag in mehr Hände übergehen muß. Sein aus dem Dunkel der Jahrhunderte heraufbeschworener Geist ist es vornehmlich gewesen, welcher das französische Drama aus den Fesseln der akademischen Regeln, des scholastischen Conven- tionalismus befreit und es dem nationalen Leben zurückgegeben hat. Denn wie man auch über das heutige Drama der Franzosen urtheilen mag, so pulsirt doch eignes, nationales Leben darin, so ist es doch aus dem Blute und dem Geiste der Nation und der Zeit, wenn auch zugleich aus den Verirrungen beider hervorgegangen. Wird es vielleicht wieder der Geist des Shakespearischen Dramas sein, der es dereinst ans diesen zu neuem poetischen Leben emporrichten wird?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/33>, abgerufen am 14.05.2024.