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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die sociale Frage im Roman.

Volleren Schriftstellern ergriffen. Sie drängt sich mit einer stillen Gewalt in
die poetische Literatur ein, und wenn sie unvermeidlich vielfach dazu dienen
muß, belletristischen Producten eine neue Würze zu geben, so wird sie doch auch
minder äußerlich erfaßt. Es ist naturgemäß und nothwendige Folge einer so
großen Bewegung, daß darstellende Kräfte einerseits von den völlig neuen Lebens¬
verhältnissen, den menschlichen Zuständen interessirt werden, die im Gefolge der
Agitation und der Kämpfe eingetreten sind, daß andrerseits tiefer angelegte Na¬
turen dem Kern der Frage im tiefsten Grunde unsrer gesammten Lebensver-
hältnisse nachspüren und ihn in poetischer Gestalt darzulegen bemüht sind. Es
ist ernste Pflicht der Kritik, alle Versuche nach der einen und der andern Seite
hin zu berücksichtigen, sollte sich dabei zunächst auch nur herausstellen, daß die¬
selbe ungeheure und nach mehr als einer Richtung trostlose Wirrniß, die in
der Wirklichkeit herrscht, ungelöst, unversöhnt, ohne einen prophetisch tröstlichen
Ausblick in die Zukunft in der Literatur erscheint.

Eine Probe der erstgenannten Art der Auffassung und Darstellung haben
wir in einem kleinen Roman Die beiden Genossen von Max Kretzer (Berlin,
Druck und Verlag von Karl Kober, 1880) vor uns. Derselbe ist eine Er¬
zählung in einem etwas derb volkstümlichen Stil, welche sich ihrer Art nach
etwa mit den Erzählungen Zschvkkes "Die Branntweinpest" und "Das Gold¬
macherdorf" vergleichen läßt. Derbrealistischc Wiedergabe kleinen Lebens, Cha¬
rakteristik in den einfachsten Zügen, ziemlich schmuckloser, aber lebendiger Vor¬
trage sollen hier dienen, die Erscheinung eines innerlich hohlen, nichtswürdigen
socialdemokratischen Agitators, wie Herr Gustav Raßmann ist, mit den Ein¬
wirkungen eines solchen Agitators auf seine Umgebungen darzustellen. Wir
zweifeln nicht, daß das Bild in der Hauptsache getroffen, wenn auch ein wenig
grell colorire ist. Das erste Auftreten Rnßmanns in seiner herabgekommenen
Lage, das rasche Emporschnellen der eitel anmaßenden, frech genußsüchtigen und
verlognen Natur, als ihm die brüderliche Einfalt des Drechslermeisters, die
Entwicklung im Tingeltangel, wo Raßmcmu mit der stechen Rosa zusammen¬
trifft, einzelne Scenen des spätern Verlaufs (bei dem im ganzen die Erzählung
minder glaubhaft wird, weil der Autor auf das Fundament der Leichtgläubigkeit
und Parteigesinnung Schorns ein zu derbes Erfindnugsgebäude aufführt) sind
sicher aus dem Leben gegriffen, im einzelne" gut beobachtet. Der Menschen-
thpus, welchen der Autor in Raßmann vorführt, wandelt unter den untern
Schichten unsers Volks herum und wirkt auf ungebildete und leichtgläubige
Naturen. Aber freilich ist mit der Vorführung einer solchen einzelnen Gestalt,
der drastischen Darstellung ihrer Nichtswürdigkeit wenig gethan. Sehen wir
die Erzählung als eine Tendcnzschrift an, so ist sie von socialdemokratischer
Seite leicht widerlegt -- denn der Nachweis, daß nicht alle Apostel der neuen
Lehre Naßmanns sind oder im innersten Kern Raßmanuschc Eigenschaften bergen,
wäre mit einem mäßigen Aufwande von Pathos zu führen. Und die Frage, wie


Die sociale Frage im Roman.

Volleren Schriftstellern ergriffen. Sie drängt sich mit einer stillen Gewalt in
die poetische Literatur ein, und wenn sie unvermeidlich vielfach dazu dienen
muß, belletristischen Producten eine neue Würze zu geben, so wird sie doch auch
minder äußerlich erfaßt. Es ist naturgemäß und nothwendige Folge einer so
großen Bewegung, daß darstellende Kräfte einerseits von den völlig neuen Lebens¬
verhältnissen, den menschlichen Zuständen interessirt werden, die im Gefolge der
Agitation und der Kämpfe eingetreten sind, daß andrerseits tiefer angelegte Na¬
turen dem Kern der Frage im tiefsten Grunde unsrer gesammten Lebensver-
hältnisse nachspüren und ihn in poetischer Gestalt darzulegen bemüht sind. Es
ist ernste Pflicht der Kritik, alle Versuche nach der einen und der andern Seite
hin zu berücksichtigen, sollte sich dabei zunächst auch nur herausstellen, daß die¬
selbe ungeheure und nach mehr als einer Richtung trostlose Wirrniß, die in
der Wirklichkeit herrscht, ungelöst, unversöhnt, ohne einen prophetisch tröstlichen
Ausblick in die Zukunft in der Literatur erscheint.

Eine Probe der erstgenannten Art der Auffassung und Darstellung haben
wir in einem kleinen Roman Die beiden Genossen von Max Kretzer (Berlin,
Druck und Verlag von Karl Kober, 1880) vor uns. Derselbe ist eine Er¬
zählung in einem etwas derb volkstümlichen Stil, welche sich ihrer Art nach
etwa mit den Erzählungen Zschvkkes „Die Branntweinpest" und „Das Gold¬
macherdorf" vergleichen läßt. Derbrealistischc Wiedergabe kleinen Lebens, Cha¬
rakteristik in den einfachsten Zügen, ziemlich schmuckloser, aber lebendiger Vor¬
trage sollen hier dienen, die Erscheinung eines innerlich hohlen, nichtswürdigen
socialdemokratischen Agitators, wie Herr Gustav Raßmann ist, mit den Ein¬
wirkungen eines solchen Agitators auf seine Umgebungen darzustellen. Wir
zweifeln nicht, daß das Bild in der Hauptsache getroffen, wenn auch ein wenig
grell colorire ist. Das erste Auftreten Rnßmanns in seiner herabgekommenen
Lage, das rasche Emporschnellen der eitel anmaßenden, frech genußsüchtigen und
verlognen Natur, als ihm die brüderliche Einfalt des Drechslermeisters, die
Entwicklung im Tingeltangel, wo Raßmcmu mit der stechen Rosa zusammen¬
trifft, einzelne Scenen des spätern Verlaufs (bei dem im ganzen die Erzählung
minder glaubhaft wird, weil der Autor auf das Fundament der Leichtgläubigkeit
und Parteigesinnung Schorns ein zu derbes Erfindnugsgebäude aufführt) sind
sicher aus dem Leben gegriffen, im einzelne» gut beobachtet. Der Menschen-
thpus, welchen der Autor in Raßmann vorführt, wandelt unter den untern
Schichten unsers Volks herum und wirkt auf ungebildete und leichtgläubige
Naturen. Aber freilich ist mit der Vorführung einer solchen einzelnen Gestalt,
der drastischen Darstellung ihrer Nichtswürdigkeit wenig gethan. Sehen wir
die Erzählung als eine Tendcnzschrift an, so ist sie von socialdemokratischer
Seite leicht widerlegt — denn der Nachweis, daß nicht alle Apostel der neuen
Lehre Naßmanns sind oder im innersten Kern Raßmanuschc Eigenschaften bergen,
wäre mit einem mäßigen Aufwande von Pathos zu führen. Und die Frage, wie


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[0035] Die sociale Frage im Roman. Volleren Schriftstellern ergriffen. Sie drängt sich mit einer stillen Gewalt in die poetische Literatur ein, und wenn sie unvermeidlich vielfach dazu dienen muß, belletristischen Producten eine neue Würze zu geben, so wird sie doch auch minder äußerlich erfaßt. Es ist naturgemäß und nothwendige Folge einer so großen Bewegung, daß darstellende Kräfte einerseits von den völlig neuen Lebens¬ verhältnissen, den menschlichen Zuständen interessirt werden, die im Gefolge der Agitation und der Kämpfe eingetreten sind, daß andrerseits tiefer angelegte Na¬ turen dem Kern der Frage im tiefsten Grunde unsrer gesammten Lebensver- hältnisse nachspüren und ihn in poetischer Gestalt darzulegen bemüht sind. Es ist ernste Pflicht der Kritik, alle Versuche nach der einen und der andern Seite hin zu berücksichtigen, sollte sich dabei zunächst auch nur herausstellen, daß die¬ selbe ungeheure und nach mehr als einer Richtung trostlose Wirrniß, die in der Wirklichkeit herrscht, ungelöst, unversöhnt, ohne einen prophetisch tröstlichen Ausblick in die Zukunft in der Literatur erscheint. Eine Probe der erstgenannten Art der Auffassung und Darstellung haben wir in einem kleinen Roman Die beiden Genossen von Max Kretzer (Berlin, Druck und Verlag von Karl Kober, 1880) vor uns. Derselbe ist eine Er¬ zählung in einem etwas derb volkstümlichen Stil, welche sich ihrer Art nach etwa mit den Erzählungen Zschvkkes „Die Branntweinpest" und „Das Gold¬ macherdorf" vergleichen läßt. Derbrealistischc Wiedergabe kleinen Lebens, Cha¬ rakteristik in den einfachsten Zügen, ziemlich schmuckloser, aber lebendiger Vor¬ trage sollen hier dienen, die Erscheinung eines innerlich hohlen, nichtswürdigen socialdemokratischen Agitators, wie Herr Gustav Raßmann ist, mit den Ein¬ wirkungen eines solchen Agitators auf seine Umgebungen darzustellen. Wir zweifeln nicht, daß das Bild in der Hauptsache getroffen, wenn auch ein wenig grell colorire ist. Das erste Auftreten Rnßmanns in seiner herabgekommenen Lage, das rasche Emporschnellen der eitel anmaßenden, frech genußsüchtigen und verlognen Natur, als ihm die brüderliche Einfalt des Drechslermeisters, die Entwicklung im Tingeltangel, wo Raßmcmu mit der stechen Rosa zusammen¬ trifft, einzelne Scenen des spätern Verlaufs (bei dem im ganzen die Erzählung minder glaubhaft wird, weil der Autor auf das Fundament der Leichtgläubigkeit und Parteigesinnung Schorns ein zu derbes Erfindnugsgebäude aufführt) sind sicher aus dem Leben gegriffen, im einzelne» gut beobachtet. Der Menschen- thpus, welchen der Autor in Raßmann vorführt, wandelt unter den untern Schichten unsers Volks herum und wirkt auf ungebildete und leichtgläubige Naturen. Aber freilich ist mit der Vorführung einer solchen einzelnen Gestalt, der drastischen Darstellung ihrer Nichtswürdigkeit wenig gethan. Sehen wir die Erzählung als eine Tendcnzschrift an, so ist sie von socialdemokratischer Seite leicht widerlegt — denn der Nachweis, daß nicht alle Apostel der neuen Lehre Naßmanns sind oder im innersten Kern Raßmanuschc Eigenschaften bergen, wäre mit einem mäßigen Aufwande von Pathos zu führen. Und die Frage, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/35>, abgerufen am 14.05.2024.