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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Im neuen Reich.
Gin neues Münchner Dichterbuch.

s mögen zwanzig Jahre verstrichen sein, seit Emanuel Geibel,
das Haupt und der gefeiertste Name jenes Dichterkreises, den
König Max II, von Baiern in München vereinigt hatte, ein
"Münchner Dichterbuch" herausgab, einen Musenalmanach be¬
sonderster Art, welcher nur Beiträge von Lyrikern und poetischen
Erzählern enthielt, die damals ihren Wohnsitz in der Musenstadt an der Jsar
aufgeschlagen hatten. Es war eine stattliche und bunte Versammlung vielver¬
sprechender Talente, welche in Lied und Ballade, Spruch und Bild, poetischer
Betrachtung und poetischer Erzählung sich dem deutschen Publicum darstellte
und neben dem grundverschiedenen Eindruck ihrer Naturanlage und besonderen
Phantasierichtung den gemeinsamen Eindruck künstlerischer Sorgfalt, einer ge¬
wissen Formfreude und Formpflege hervorrief. Das Wort vom neuen "Alexan-
drinerthum," das damals durch viele Kritiken lief, war, näher betrachtet, freilich
nur eine leidlich klingende Phrase, und die Münchner Dichter durften mit Recht
auf frische, lebendige Naturen in ihrer Mitte, auf scharf geprägte Individuali¬
täten mit offenen Augen für Welt und Menschenthum hinweisen und die Frage
so stellen, ob denn alle warme Empfindung und alle lebendige Anschauung un¬
mittelbar verloren sei, wenn sie in kunstreichen Versen sich ausspreche und dar¬
stelle? Indeß blieb es immerhin wahr, daß zwischen den wirklichen und den
berufenen Talenten des damaligen Münchner Dichterbnches sich auch einige
Nachempfinder und unter den Gedichten der wahren Poeten sich etliche befanden,
bei denen das Wort Goethes vollkommen zutraf: "Die jungen Herren lernen
Verse machen wie Düten, wenn sie uns aber nur auch einiges Gewürz in den¬
selben überreichen wollten." Der ungünstigen Wirkung scharfer Gegensätze kann
unsre neuere Literatur einmal schwer entrinnen. Die rohe Feindseligkeit und
stumpfe Gleichgiltigkeit, welcher die poetische Form und der Drang nach sprach¬
licher Schönheit ausgesetzt sind, wecken den Widerstand poetischer Naturen und
verleiten halbpoetische, die bloße sprachliche Anmuth, die ganz äußerliche Vers-
gewcmdthcit für ein ausreichendes Verdienst zu erachten. Was Mittel bleiben
muß, wird unter ungünstigen Umständen eben leicht zum Zweck. Jedoch mit all
diesen Wenn und Aber blieb das Münchner Dichterbuch von 1862 der beste
"Musenalmanach" der neuern deutschen Literatur und erweckte große Hoffnungen
für die Weiterentwicklung der meisten darin vereinigten Genossen.

Heute um, genau nach zwei Jahrzehnten, erscheint ein "Neues Münchner
Dichterbuch",*) herausgegeben von Paul Heyse. Schon in der Thatsache, daß



*) Neues Münchener Dichkerbnch. Hernns.qegelien von Puut Her,se. Sluttgint,
Gebrüder Kröner, 1882.
Im neuen Reich.
Gin neues Münchner Dichterbuch.

s mögen zwanzig Jahre verstrichen sein, seit Emanuel Geibel,
das Haupt und der gefeiertste Name jenes Dichterkreises, den
König Max II, von Baiern in München vereinigt hatte, ein
„Münchner Dichterbuch" herausgab, einen Musenalmanach be¬
sonderster Art, welcher nur Beiträge von Lyrikern und poetischen
Erzählern enthielt, die damals ihren Wohnsitz in der Musenstadt an der Jsar
aufgeschlagen hatten. Es war eine stattliche und bunte Versammlung vielver¬
sprechender Talente, welche in Lied und Ballade, Spruch und Bild, poetischer
Betrachtung und poetischer Erzählung sich dem deutschen Publicum darstellte
und neben dem grundverschiedenen Eindruck ihrer Naturanlage und besonderen
Phantasierichtung den gemeinsamen Eindruck künstlerischer Sorgfalt, einer ge¬
wissen Formfreude und Formpflege hervorrief. Das Wort vom neuen „Alexan-
drinerthum," das damals durch viele Kritiken lief, war, näher betrachtet, freilich
nur eine leidlich klingende Phrase, und die Münchner Dichter durften mit Recht
auf frische, lebendige Naturen in ihrer Mitte, auf scharf geprägte Individuali¬
täten mit offenen Augen für Welt und Menschenthum hinweisen und die Frage
so stellen, ob denn alle warme Empfindung und alle lebendige Anschauung un¬
mittelbar verloren sei, wenn sie in kunstreichen Versen sich ausspreche und dar¬
stelle? Indeß blieb es immerhin wahr, daß zwischen den wirklichen und den
berufenen Talenten des damaligen Münchner Dichterbnches sich auch einige
Nachempfinder und unter den Gedichten der wahren Poeten sich etliche befanden,
bei denen das Wort Goethes vollkommen zutraf: „Die jungen Herren lernen
Verse machen wie Düten, wenn sie uns aber nur auch einiges Gewürz in den¬
selben überreichen wollten." Der ungünstigen Wirkung scharfer Gegensätze kann
unsre neuere Literatur einmal schwer entrinnen. Die rohe Feindseligkeit und
stumpfe Gleichgiltigkeit, welcher die poetische Form und der Drang nach sprach¬
licher Schönheit ausgesetzt sind, wecken den Widerstand poetischer Naturen und
verleiten halbpoetische, die bloße sprachliche Anmuth, die ganz äußerliche Vers-
gewcmdthcit für ein ausreichendes Verdienst zu erachten. Was Mittel bleiben
muß, wird unter ungünstigen Umständen eben leicht zum Zweck. Jedoch mit all
diesen Wenn und Aber blieb das Münchner Dichterbuch von 1862 der beste
„Musenalmanach" der neuern deutschen Literatur und erweckte große Hoffnungen
für die Weiterentwicklung der meisten darin vereinigten Genossen.

Heute um, genau nach zwei Jahrzehnten, erscheint ein „Neues Münchner
Dichterbuch",*) herausgegeben von Paul Heyse. Schon in der Thatsache, daß



*) Neues Münchener Dichkerbnch. Hernns.qegelien von Puut Her,se. Sluttgint,
Gebrüder Kröner, 1882.
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[0516] Im neuen Reich. Gin neues Münchner Dichterbuch. s mögen zwanzig Jahre verstrichen sein, seit Emanuel Geibel, das Haupt und der gefeiertste Name jenes Dichterkreises, den König Max II, von Baiern in München vereinigt hatte, ein „Münchner Dichterbuch" herausgab, einen Musenalmanach be¬ sonderster Art, welcher nur Beiträge von Lyrikern und poetischen Erzählern enthielt, die damals ihren Wohnsitz in der Musenstadt an der Jsar aufgeschlagen hatten. Es war eine stattliche und bunte Versammlung vielver¬ sprechender Talente, welche in Lied und Ballade, Spruch und Bild, poetischer Betrachtung und poetischer Erzählung sich dem deutschen Publicum darstellte und neben dem grundverschiedenen Eindruck ihrer Naturanlage und besonderen Phantasierichtung den gemeinsamen Eindruck künstlerischer Sorgfalt, einer ge¬ wissen Formfreude und Formpflege hervorrief. Das Wort vom neuen „Alexan- drinerthum," das damals durch viele Kritiken lief, war, näher betrachtet, freilich nur eine leidlich klingende Phrase, und die Münchner Dichter durften mit Recht auf frische, lebendige Naturen in ihrer Mitte, auf scharf geprägte Individuali¬ täten mit offenen Augen für Welt und Menschenthum hinweisen und die Frage so stellen, ob denn alle warme Empfindung und alle lebendige Anschauung un¬ mittelbar verloren sei, wenn sie in kunstreichen Versen sich ausspreche und dar¬ stelle? Indeß blieb es immerhin wahr, daß zwischen den wirklichen und den berufenen Talenten des damaligen Münchner Dichterbnches sich auch einige Nachempfinder und unter den Gedichten der wahren Poeten sich etliche befanden, bei denen das Wort Goethes vollkommen zutraf: „Die jungen Herren lernen Verse machen wie Düten, wenn sie uns aber nur auch einiges Gewürz in den¬ selben überreichen wollten." Der ungünstigen Wirkung scharfer Gegensätze kann unsre neuere Literatur einmal schwer entrinnen. Die rohe Feindseligkeit und stumpfe Gleichgiltigkeit, welcher die poetische Form und der Drang nach sprach¬ licher Schönheit ausgesetzt sind, wecken den Widerstand poetischer Naturen und verleiten halbpoetische, die bloße sprachliche Anmuth, die ganz äußerliche Vers- gewcmdthcit für ein ausreichendes Verdienst zu erachten. Was Mittel bleiben muß, wird unter ungünstigen Umständen eben leicht zum Zweck. Jedoch mit all diesen Wenn und Aber blieb das Münchner Dichterbuch von 1862 der beste „Musenalmanach" der neuern deutschen Literatur und erweckte große Hoffnungen für die Weiterentwicklung der meisten darin vereinigten Genossen. Heute um, genau nach zwei Jahrzehnten, erscheint ein „Neues Münchner Dichterbuch",*) herausgegeben von Paul Heyse. Schon in der Thatsache, daß *) Neues Münchener Dichkerbnch. Hernns.qegelien von Puut Her,se. Sluttgint, Gebrüder Kröner, 1882.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/516>, abgerufen am 29.04.2024.